Toro Embolao

Laut zischend steigt die Feuerwerksrakete dem Himmel entgegen, zieht einen Schweif Pulverqualm hinter sich her und explodiert mit einem lauten Donnerschlag. Das unverkennbare Zeichen, der 500 Kilogramm schwere Stier wird freigelassen und durch die engen Gassen und Straßen in die Stierkampfarena getrieben, in der er schließlich getötet werden soll. Männer werden ihren Mut beweisen, indem sie kurz vor dem Stier rennen, einziges Hilfsmittel zu Abwehr wird eine eingerollte Zeitung sein. Es ist Karfreitag, und wie jedes Jahr wiederholt sich die Toro Embolao in dem weißen andalusischen Dorf Vejer de la Frontera aufs Neue.

Um das Spektakel besser beobachten zu können, habe ich mir einen sicheren Platz auf einem der Flachdächer errungen, von wo aus man einen guten Blick auf die Hauptstraße hat. Ich schaue auf die Männer hinunter, die ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfen und lausche den Klängen einer Blaskapelle, die spanische Volkslieder trompetet. Frenetischer Beifall brandet auf und um die Ecke hetzen die ersten Läufer, schwer schnaubend als wäre ihnen der Tod persönlich knapp auf den Fersen.
Der Tod ist in diesem Falle der Stier mit einer halben Tonne purer Muskelmasse, die direkt vor meinem Aussichtspunkt zum stehen kommt. Die blank polierten Hörner des Bullen blitzen im Sonnenlicht, sie sind lang wie der Unterarm von Hulk und so spitz, dass er damit Atomkerne spalten könnte. Zwei Männer hangeln sich zum Schutz auf einen Balkon, andere flüchten die Straße hinunter. Betrunkene locken den Stier mit roten T-Shirts in den Händen, dieser setzt zur Jagd auf seine Peiniger an und keine Sekunde später ist er meinem Blickfeld enteilt.

Um vielleicht noch mehr Einblicke erhaschen zu können, klettere ich vom Dach hinunter und durch die Eisenstangenabsperrung auf die Hauptstraße. Zusammen mit Einheimischen eile ich erwartungsvoll Richtung Stierkampfarena. Doch Lärm brandet auf, kurz darauf kommen uns schwer atmende Männer entgegen. Ich drücke mich an eine Hauswand, während die anderen Schutz hinter den Absperrungen zu einer Seitenstraße suchen.
Ganz klar, der Stier hat auf dem Weg zum Schafott eine Kehrtwendung vollzogen und hetzt nun die Hauptstraße zurück. Doch anstatt sofort zu flüchten, bin ich vom Anblick seiner majestätischen Anmut, von dem Spiel der Muskeln, seinem Todeskampf und dem Willen zu überleben so fasziniert, dass ich wie gelähmt bin. Der Koloss zieht mich magisch in seinen Bann und ist nur noch etwa 50 Meter entfernt. Menschen schreien, aber ihre Rufe dringen wie aus einem anderen Universum zu mir durch.

Dann geschieht das Erstaunliche. Der anstürmende Koloss hält im Kollisionskurs abrupt inne. Seine Hufe schlittern über den Asphalt, etwa zehn Meter vor mir kommt er zum stehen. Er hebt seinen wuchtigen Kopf und starrt mir mit allzu großen Augen entgegen. Ich blicke direkt in die Iris und erkenne in diesem kurzen Augenblick die Traurigkeit darin, sein Leid, die Tränen und den Schmerz über die Grausamkeit, die ihm hier angetan wird. Dann senkt er seinen Kopf und die Hörner verkörpern den Tod, die Schuld, Krieg, Gewalt und Hölle. Eine extreme Furcht überrollt mich, die mich unbewusst zum Handeln zwingt. Flucht ist der einzig überlebende Gedanke, ich will nur noch fort von hier, ganz weit weg von dieser Stadt.

Der Stier scharrt mit dem rechten Vorderhuf über den Boden, Funken sprühen, aus seinen Nüstern qualmt der Atem. Eine halbe Tonne Gewicht setzt sich in Bewegung, die zwei Hörner zeigen genau auf mein wild pochendes Herz. Und alles geht ganz schnell. Ich mache auf dem Absatz kehrt und hetze mit einer mit unbekannten Geschwindigkeit dem Gatter entgegen, hinter dem sich die entsetzte Menge verschanzt hat. Mit einem gewaltigen Satz springe ich auf eine der Eisenstangen und katapultiere meinen Körper über die Absperrung. Just in diesem Moment höre ich den Stier unter mir ins Eisen rammen. Es kracht laut, die Eisenstangen ächzen unter der Macht des Ansturms. Die Menge weicht zurück, ich fliege zu Boden und rolle mich über die Schulter ab. Mehrere Arme heben mich auf, jemand klopft mir erleichtert auf die Schulter.

„Mein Gott, ich lebe noch!“ rauscht es mir durchs Gehirn. Einen kurzen Augenblick waren der Stier und ich eine Seele, ein und dasselbe Geschöpf unter der Sonne der Lebenden. Meine Person allerdings darf weiter existieren, auf den Stier wartet nur noch der Tod. Der Sensenmann in Gestalt eines Toreros kappt alle Verbindungen, nichts bleibt zurück.
Und so überrollt mich eine tiefe Trauer und drängt mich durch die Massen zum Ortsausgang. Ich stelle mich an den Straßenrand und recke den Daumen empor. Als ein Auto hält und ich einsteige, um weit weg von dieser Stadt zu kommen, sticht ein Schwert durch den Nacken des Stieres bis hinein ins Herz. Die Menge in der Arena jubelt gierig auf. Der Stier sackt nieder auf die Knie und stirbt.

 

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