Viele Noten unterm Tisch

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„Es ist nicht schwer, zu komponieren. Aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen.“ (Johannes Brahms)

Weil just in den letzten Wochen so besonders viel im Brahms´schen Sinne gelungener Kram meinen Weg gekreuzt hat, will ich euch gerne mal ein paar der Platten vorstellen. Ein paar sind aktuell, ein paar haben mit einem kleinen Umweg den Weg wieder zu mir zurück gefunden. Aber alle haben das gewisse Etwas, das mir jetzt schon sagt, dass sie ordentlich abgehangen sind und den Test der Zeit bestehen werden oder es schon getan haben. Zugegeben, ein Innovationspreis wird sich mit dieser Zusammenstellung wohl nicht gewinnen lassen. Aber ich traue allen Vertretern dieses Ensembles zu, dass sie auch für den einen oder anderen von euch zu einem treuen Begleiter werden können. Los geht’s…

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Chuck Ragan – Feast Or Famine

Chuck Ragan ist in den letzten Jahren zu so etwas wie dem “großen, alten Mann” einer jungen US-amerikanischen Folkbewegung geworden. Auf inzwischen vier Alben arbeitet sich der Mann mit dem unglaublich physischen Gesangsstil nun schon an den Ideen, Standards, Geschichten und Emotionen einer lange – zumindest für europäische Ohren – verschüttet geglaubten musikalischen Tradition ab.

Ragan, der sich als Sänger der Indiepunk-Heroen Hot Water Music (deren Relevanz sich mir allerdings nie erschloss) Ikonenstatus erarbeitet hat, hat auf “Feast Or Famine” (von 2005) zwölf Nummern versammelt, die allesamt eines verbindet: Der Kopf dahinter hat etwas zu erzählen und lässt sich davon verdammt nochmal nicht abbringen. Allein “American Burritos”, “The Boat” oder “For Broken Ears” versammeln – vorgetragen von Hardest Working Man in Showbusiness zusammen mit zumeist nicht mehr als Kontrabassisten und Violinisten – mehr Emotionen und Vitalität als andere Bands in ihr komplettes Oeuvre zu packen imstande sind. Auch die beiden nachfolgenden Scheiben sollten dringend mal angetestet werden, an die Eindringlichkeit dieser Vorstellung kommen sie allerdings nicht ganz ran. Ausgelöst wurde der Chuck Ragan-Revivalimpuls übrigens durch die gerade zuende gegangene “Revival Tour”, für die der Sänger Kollegen im Zeichen des Folk versammelt hat, die allesamt ebenfalls dieser Tage erstklassige und überaus empfehlenswerte Soloalben an den Start gebracht haben. (Dave Hause – Resolutions, Brian Fallon als “The Horrible Crows” – Elsie und Dan Andriano – Hurricane Season).

www.chuckragan.com.

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Broilers – Santa Muerte

Nun gut, wenig kontrovers und man muss aufpassen, dass man sich nicht dem Vorwurf aussetzt, hier auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Dennoch: Ich verlasse das sichere Nest des Liebhabertums und stelle diese Platte in den gebührenden (Klang-)Farben vor. Denn den Broilers gelingt mit “Santa Muerte” endgültig das, was sich schon auf dem Vorgänger “Vanitas” angedeutet hatte: Die erfolgreiche Kombination einer betonschweren, teerfarbenen Bodenständigkeit, exotisch- progressiv-frech daher kommender Instrumentaleinsätze und einer textlichen Ambitioniertheit, die mal mit kunstvoller Einfachheit komplexen Alltag beschreibt und dann auch wieder andersrum daher kommt. Dieses Werk ist nichts für musikalische und gesellschaftspolitische Analphabeten, sondern für eine intellektuell ambitionierte, am politischen und sozialen Diskurs interessierte Zuhörerschaft. Aber wisst ihr was? Schluss mit dem Geschwurbel. Denn “Santa Muerte” ist eine Platte, die von vorne bis hinten mit ganz wenigen Ausnahmen viel Spaß macht. Und auch wenn sie manchmal etwas verkopft daher kommen mag, so ist dieser Gedanke nie Selbstzweck, sondern zwingt den Zuhörer, sich nicht nur mit der Form, sondern auch dem Inhalt der Songs auseinander zu setzen. Denn zwischen Bläsersätzen, die hier so geschmackvoll arrangiert und effektiv wie noch nie zuvor in der Broilers-Laufbahn, lauert hinter jeder Ecke Botschaft und Aufforderung zu irgendwas. Vorsicht, diese Platte ist durch und durch politisch – und zwar, weil alles politisch ist. Außer vielleicht der schieren musikalischen Freude und Fülle an auditiven Gedanken, die auf “Santa Muerte” verarbeitet sind. Anspieltipps: “Weckt die Toten”, “In ein paar Jahren”, “The World Is Yours (Nicht)”, “Tanzt du noch einmal mit mir”.

www.broilers.de.

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The Kordz –Beauty And The East

Mit dieser und der nächsten Scheibe wird es ein bisschen exotischer und ich wette, mindestens eine der beiden Bands wird bei euch nur Fragezeichen produzieren. Und weil das so schade ist, will ich euch beide vorstellen. Los geht es mit den Kordz und die räumen in Sachen Exotenbonus voll ab, auch wenn sie den eigentlich weder wollen noch brauchen. Die Band um Sänger und Mastermind Moe Hamzeh kommt aus dem Libanon und wenn sich das große Raunen unter den Rockfreunden gelegt hat, bleibt in der Regel eine große Neugier zurück. So war es auch bei mir, als ich meine Finger an diese Platte bekommen habe. Und man bekommt eigentlich genau das, was man erwartet – zumindest musikalisch: Eine Band, die handwerklich über alle Zweifel erhaben agiert und darüber hinaus selbstbewusst und mit großer Finesse immer wieder völlig klischeebefreit und gut dosiert das kulturelle Erbe ihrer Heimat zitiert. Ansonsten ist “Beauty And The East” eine Platte, deren Titel das selbstironischste Element ist. Denn inhaltlich wird hier durchaus schwere Kost geboten, auch wenn es wider Erwarten eher unpolitisch zugeht. Dass Sänger und Texter Moe kein luftiger Springinsfeld ist, trieft aus jeder Zeile der Texte, die sich häufig mit den ganz großen Fragen (“The End”) beschäftigen. The Kordz liefern hier ein lebendig-melancholisches Album ab, das gerade für mitteleuropäische Ohren unheimlich viel unheimlich unaufdringlich zu Entdecken bereit hält. Und am Ende des Tages vor allem eines ist: Ein verdammt gutes Stück Rockmusik!

www.thekordz.com.

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Carpark North – Lost/ All Things To All People

Meine dänische Zweitlieblingsband – noch deutlich vor Volbeat – hört auf den Namen Carpark North und ist vielleicht dem einen oder anderen hier schon ein Begriff. Das Trio spielt elektronisch beeinflussten, stets etwas poppigen Rock und ist gerade in der Heimat schon weit mehr als ein Geheimtipp – bei uns lassen sich die Herren jedoch eher selten blicken und auch ihr Album “Lost” ist, zumindest so weit ich das mitbekommen habe, ziemlich unter Wert gelaufen. Dabei ist “Lost” so etwas wie eine Art Best Of der frühen Jahre, denn hier sind nicht nur feine Ohrenschmeichler wie das saustarke “More” und das beinahe an Kraftwerk gemahnende “Shall We Be Grateful” versammelt, sondern auch mit “The Beasts”, “Transparent And Glasslike” und “Human” die drei stärksten Hits ihres Dänemark-Debüts “All Things To All People”, das hierzulande nicht erschienen ist und nur per Import zu kriegen war. Und möglicherweise liegt genau hier die Krux (und der Grund, warum oben zwei Alben stehen): Denn die drei letztgenannten Nummern wurden für das deutlich für eine kommerziellere Zielgruppe produzierte “Lost” auf Linie gebracht und so ihrer Ecken und Kanten beraubt. Nicht falsch verstehen, starke Songs bleiben starke Songs. Aber wenn man die Originale und ihre sperrige Intensität kennt, dann fehlt hier deutlich was. Deshalb empfehle ich – wenn die Chance besteht – doch den Griff zum “Original”. Denn hier kracht, knallt und fließt es noch einen ganzen Zacken energischer als auf “Lost”. Zieht euch mal auf Youtube “The Beasts” und “Transparent And Glasslike” in den Liveversionen rein und es werden wohl keine Fragen offen bleiben.

www.carparknorth.dk.

Till Erdenberger

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