„Fragmentierte Teilidentitätsdarstellung mit Ehrlichkeitsanspruch“, nennt sie das. Schon lange hat kein Mädchen mehr so was sexies zu mir gesagt. Ich bin sofort Feuer und Flamme. Aber der Reihe nach: Dieses Netz ist eine komische Angelegenheit. Das wird mir zwischendurch immer wieder bewusst. Nicht nur ein grandioser Zeitfresser (und ich weiß, was es bedeutet zu sagen, dass das Web Zeit frisst, ich habe hier gefühlte 3740 Probeversionen runterladbarer Suchbildspiele auf meinem Rechner…), sondern auch ein wunderbar weitläufiger Debattierclub (okay, auch Zeitfresser), ein ausführliches Informationsmedium (Oh! Zeit! Mjam, Mjam, Mjam) und ein Ort, an dem man nicht aufhören will zu glauben, seine nächste Herzensangelegenheit zu finden.
Nun werden die meisten mitlesenden Realisten mir zurufen, dass es unmöglich sei, sich im Netz zu verknallen. Dazu gehört immer auch das Echte, die Realität. Das Sehen, Riechen, Hören. Flüchtige Berührungen beim Taxi-Tür aufhalten. Oder gemeinsames Auge-in-Auge-Lachen. Überhaupt: Netzfiguren sind in echt so anders, als sie scheinen, Sascha Lobo mal ausgenommen. Da schlägt das Herz höchstens für eine Illusion, die beim Disco-Date an den grobschlächtig gebauten Kaimauern der Realität zerschellt. Jeder, der schon mal Facebook-Kontakte gedatet hat, wird wissen, was gemeint ist.
Ich habe mich am Anfang auch zu Begeisterungsstürmen hinreißen lassen. Ich dachte das wäre es jetzt, dass ich sie endlich gefunden hätte. Und dass mir eben diese neue Form der Kommunikation dabei entscheidend geholfen hätte. Aber, ach, wie ernüchternd. Dass man doch nicht ihr Typ ist. Dass sie ‘nen Freund hat. Dass man sich außerhalb des kleinen, gelegentlich aufpoppenden Chatfensters, eigentlich nur sehr wenig zu sagen hat. Und als wäre das nicht schlimm genug, geht die Ernüchterungsphase noch weit darüber hinaus: Wenn man sich einmal in echt getroffen hat, ist auch der Spaß online zu kommunizieren dahin. Der Reiz ist weg. Etwas geht kaputt durch diese scheiß Realität. Wie schön muss es in der Zukunftsvision von Flusser werden, wenn Körper nichts mehr zählen und nur noch der Geist weltumspannend vernetzt wird. Man würde quasi in Facebook leben. Und jetzt kommt mir nicht mit Matrix, das ist doch Bodybuilder-Esoterik.
Aber zurück ins hier und jetzt: Nach der ein oder anderen Enttäuschung nähert man sich dann doch etwas vorsichtiger neuen Online-Bekanntschaften. Erstmal langsam angehen, mal gucken was da so kommt. Vielleicht hat sie ein Blog, kann man ja mal reingucken. Erste zärtliche „Replies“ werden über Twitter ausgetauscht. Alles ganz langsam, alles mit Bedacht.
Überhaupt: Twitter. Nach anfänglichem Nichts-damit-anfangen-können, ist das jetzt für mich eine Art Schweizer Armeemesser des Web. Da kann ich abschalten, da kann ich mich absolutem Nonsens hingeben. Da habe ich immer ein Grundrauschen. Aber da kriege ich auch die konkreten Informationen, die Google als Suchanfrage nicht versteht. Das ist also so eine Art persönliches Wikipedia für mich geworden. Natürlich mit den besten Followern, die man sich vorstellen kann, aber die nimmt wohl jeder Twitterer für sich in Anspruch. Was nicht bedeuten soll, dass es da nicht auch Unsitten gäbe:
Wenn jemand etwas schreibt, was einem anderen nicht in den Kram passt, wird sofort mit „unfollowen“ gedroht. Ja, wirklich. Sozusagen Liebesentzug. Ich bitte euch. Ich mag was die Leute da auf Twitter schreiben, manchmal mag ich sogar die Leute, die da schreiben, aber die Drohung nicht mehr zu lesen, was jemand schreibt, nur weil er nicht schreibt, was man von ihm zu schreiben erwartet, ist ja vor allem eins: saudoof. Sonst ist aber alles gut in dem eingeschlossenen Mikrokosmos. Ehrlich. Könnt ihr mir glauben.
Man kommentiert sich also gegenseitig auf Twitter. Findet lustig, was der Andere schreibt oder kriegt vielleicht sogar hier und da ein bisschen erhöhten Puls, wenn der Andere Fotos von sich postet oder interessante Wahrheiten über sich äußert. Wobei: Man kann ja nur annehmen, dass es sich um Wahrheiten handelt. Aber auch da greift das Konzept „gesunder Menschenverstand“ ganz gut und es lässt sich relativ sicher einschätzen, wer wirken will und wer wirklich wirkt.
Dabei habe ich eine interessante Verlaufskurve beobachtet, beim Annähern über Twitter: Erstmal überhaupt Kontakt aufnehmen. Es geht hin und her. Dann erschlafft der Kontakt. Man lässt es ein wenig ruhen, immerhin steht man ja mehr oder weniger unter Beobachtung. Man muss sich das ein bisschen so vorstellen wie Flaschendrehen, früher auf den Partys im Partykeller der Eltern des eigentlich unbeliebten Mädchens in der Klasse. Da wusste man schon zu Beginn, wen man auswählen würde, wenn die Flasche auf einen zeigt. Die ganze Kraft jugendlicher Wünsche und Hoffnungen ruhten nur darauf, dass die Flasche bei der potentiell Angebeteten endlich mal mit diesem dämlichen Drehen aufhört. Und wenn sie es dann tat und man sich bereit machen musste zum Kuss, dann war das plötzlich zwar immer noch aufregend, aber eben auch unangenehm und ein bisschen fies, weil ja allen anderen Umsitzenden förmlich die Augen aus dem Kopf traten in Erwartung des Kusses, den sie zu sehen hofften. Sprich: Lieber doch nicht mit Zunge.
Und so muss man sich das Kennenlernen beim Micro-Blogging-Dienst vorstellen. Erstmal ganz vorsichtig rantasten und darauf achten, dass es nicht zu offensichtlich ist, dass man da an jemandem interessiert ist (was es vermutlich sowieso ist). Man möchte ja nicht mit der Tür ins Haus fallen und überhaupt: Von ein paar 140-zeichigen Kommentaren zum Weltgeschehen und ein paar eingestreuten Fotos lässt sich ja noch kein wirklich aufregendes Charakterprofil ableiten. Also nächste Stufe zünden im modernen Kennenlernen: Facebook.
Dabei hat das soziale Netzwerk natürlich ein paar Vorteile. Man kriegt persönliche Daten wie Geburtstag, Vorlieben, manchmal auch Job und/oder Urlaubsfotos auf dem Silbertablett serviert und ist somit in der Lage das eigene Bild der Person zu verfestigen oder eben zu korrigieren. Auch hier muss nicht alles wahr sein, was es zu lesen gibt und natürlich wählt jeder normale Mensch nur vorteilhafte Fotos von sich aus, um sie dem geschlossenen Zirkel der „Freunde“ bei Facebook zu zeigen. Dessen sollte man schon gewahr sein. Ein Fotoalbum mit 127 Bildern einer Person, in denen sie aber immer nur bis zur Hüfte zu sehen ist, sollte zum Beispiel auf ein Holzbein, zwei Holzbeine, unansehnliche Beine oder Ähnliches schließen lassen. Nicht weiter schlimm, man sollte sich dessen nur bewusst sein. Jeder bastelt sich sein eigenes Abbild zusammen. Das war schon immer so, nur nie so komplex wie heutzutage.
Kommen wir aber zum elementaren Teil, der zweiten Kennenlernstufe: Der Facebook-Chat. Jetzt überschreitet man eine Grenze, denn die direkte Kommunikation beginnt. Natürlich immer noch geschützt durch die Schrift. Man kann sich nicht versprechen, nicht verhaspeln oder generell stimmlich doof rüberkommen. Das ist eine Schlüsselsituation. Man muss jetzt direkt reagieren und möglichst en passant dem Gegenüber Details über sich und sein Leben entlocken. Man will ja nicht zu aufdringlich sein. Natürlich: Ironie beispielsweise ist schwer zu vermitteln in einem Textfenster. Da kann man sich schon mal ins Knie schießen. Wenn man solch gängige Fallstricke aber geschickt umgeht, stellt sich recht schnell das plötzliche Gefühl ein, da gerade jemanden kennenzulernen. Also, so richtig. Das mag nicht stimmen, fühlt sich aber so an. Und dann kann so eine, nennen wir es mal „Session“, auch schon mal bis tief in die Nacht hinein gehen und man bemerkt um 3 Uhr, dass man doch mal langsam ins Bett gehen sollte.
Ähnlich dem echten Kennenlernen, wo man sich beim Italiener gegenübersitzt und jedes Wort aufsaugt und sich wünscht, dass der Abend nicht aufhört. Ein Wunsch übrigens, den das anwesende Personal nur in den allerseltensten Fällen teilt, weswegen man früher oder später dann doch vor die Tür gesetzt wird und hinter einem die Rollläden hektisch runterrasseln oder die Tür überstürzt abgeschlossen wird. Dann steht man da. Jetzt kann man nach Hause gehen (Natürlich nicht ohne dass der Mann die Frau noch zu ihrer Wohnung fährt/begleitet, um sie dort zu verabschieden und zu sich zu gehen. Und nein: Man geht nicht noch auf einen Drink mit hoch, ich bin da altmodisch…) oder noch weiterziehen in eine dieser berüchtigten Kneipen die um die Zeit unter der Woche noch aufhaben. Ich bevorzuge zu jeder Zeit den früheren Rückzug. Weiterziehen führt nur zu Komplikationen. Gut, in der virtuellen Welt macht nie jemand Feierabend und die Lichter aus. Das ist der Vorteil. Aber eben auch der Nachteil. Da kann es schon mal länger werden. Und dann fängt es meistens an: Das Herzchenklopfen.
Die nächste Stufe ist eine der kompliziertesten: Die Melange. Jetzt ist allerhöchste Aufmerksamkeit gefragt, denn jetzt beginnen die Probanden die Dienste zu vermischen. Auf Facebook anchatten, auf Twitter aber antworten. Da muss man am Ball bleiben. Denn natürlich entwickeln sich, zwangsläufig, erste Codes untereinander, die man immer lesen und entdecken will. Die können sich in einem Tweet verbergen, der Anderen, Außenstehenden völlig normal vorkommt, in einer Statusmeldung, vielleicht auch in einem geposteten Bild. Das ist auch der Moment, in dem es romantisch werden kann. Romantik hat es ja so an sich, dass sie sich immer neuesten Entwicklungen anpasst. Früher stand der Minnesänger unter‘m Balkon, dann hat man den Mädchen Kassetten aufgenommen. Heute postet man ein Musikvideo für den anderen, oder macht ein Foto von sich, das Anspielungen enthält. Für die Einen totale Kryptik, für die Eingeweihten herzerweichend. Und wenn einem die Auserwählte dann das Online-Leben und -Lieben dann auch noch mit so einer tollen Bezeichnung wie eingangs erwähnt erklärt, dann kann man sich nur noch schwer wehren.
Die letzte Stufe ist klar. Man trifft sich in echt. Man hofft die Stimmung aus dem Online-Leben in die echte Welt mit rüberzuretten. Das gelingt nicht immer. Manchmal gar nicht. Dann war es eben nur ein Flirt. Und man hört die Worte des Kunsträubers aus dem dritten Teil von Indiana Jones in seinen Ohren, als er River Phoenix den markanten Schlapphut aufsetzt und zu ihm sagt: „Heute hast du verloren Kleiner. Aber das muss dir ja nicht gefallen.“
Aber eines Tages wird es klappen. Und dann kann man endlich seinen Beziehungsstatus in Facebook von „Single“ auf „in einer Beziehung“ ändern. Denn nur darum geht’s hier doch, oder?