Die Tiefe der TuchfÜhlung

Teresa Bücker über die Generation NEON und schlechte Ratgeber

Zweieinhalb Meter in die Höhe ragt meine mädchenhafte Ratlosigkeit. Jahr für Jahr habe ich Stunde um Stunde in dem mittig eingelassenen Spiegel meines Schrankes ausgeharrt auf der Spur nach Nirgendwo. Ein immerfortes Zwiegespräch mit den Locken, der Blässe und den Sommersprossen vor jeder Samstagnacht. Die Stoffe hinter der Tür sagen kein Wort. Doch in diesen Nächten geht es stets um mehr als den narzisstischen Blick oder das passende Outfit. Der scharfe Blick in die Augen des eigenen Spiegelbilds trifft die wahrhaft wichtigen Entscheidungen. Jede Woche wieder. Wenn dann der eigentliche Knoten platzt, sitzt das Kleid Sekunden später an seinem Platz.

Das Dilemma: Selbst ein so nebensächlicher Schauplatz wie die Kleiderfrage kann durch keinen Ratgeber adäquat bedient werden, außer durch die eigene Courage, die sich dem Kern des Grübelns annimmt. Dabei existieren beratende Schriften für den Bereich unseres Aussehens zuhauf und warten gestapelt, geheftet und gebunden im Bahnhofsbuchhandel auf den um Rat suchenden Käufer. Doch wenn für den Massenmarkt geschriebene Ratgeberliteratur schon auf unserer äußeren Ebene versagt, welchen Wert haben dann die Stilbibeln für die großen Abzweigungen unseres Lebens? Eine Gebrauchsanweisung für das Leben des jungen Erwachsenen hat so eben die Druckpresse des Hauses Heyne verlassen: „Planen oder treiben lassen?“ – Michael und Timm wollen darauf antworten. Planen oder treiben lassen, lautet das Motto dieser Nacht. Die Einladung zur Vorstellung des Werkes enthält keinen Dresscode. Ich schüttele Haupt und Haar nach dem letzten Blick auf den misslichen Flyer, nicke meinem Spiegel zu und verlasse das Haus.

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Deutschland, um die dreißig. In einer warm beleuchteten Wohnküche wird mir die Packungsbeilage meiner Generation in die Hände gedrückt. Ich lehne erst seit sechs Minuten in der Küchentür, doch mein Fuß wippt nervös in Richtung Ausgang. Der Wein klopft an meine Magenwand. Schräg gegenüber von mir steht eine Analogie der Erkenntnis – verteilt auf zwei Personen und 272 Seiten – die mir bereits vier Wochen nach Beginn meines ersten Semesters zart auf die Schulter klopfte; mit Wucht brauchte sie das nicht zu tun: Wohnungsparties im studentischen Milieu oder Begegnungen auf ähnlichem Niveau in Geist und Geschmack würden meine bulimische Karriere nur weiter manifestieren. Studium, Studenten, Neunmalkluge, einfältige Oberlehrer und all die Dinge und Strukturen, die für graue Geister erdacht wurden, um ihrem törichten Tun den fahlen Anstrich von Sinn und Ziel zu verleihen. Auf einer Wohnungsparty kondensieren die Protagonisten des Exzellenzclusters zu der Essenz ihrer Belanglosigkeit und Langeweile. Eingereiht zwischen Männern und Frauen vor dem ersten grauen Haar, verursacht die Zusammenkunft zur Feier des „handfesten Ratgebers für die Suche nach dem richtigen Weg durch dieses verflixt komplizierte Leben“ ein beengendes Gefühl. Wie die Parties von einst in der Großstadt, die überquollen vor Steifheit, Naivität und Arroganz der Neuankömmlinge. Geisteswissenschaftler, Assistenzärzte, Resteficker und verhinderte Staranwälte haben nun unter einem neuen Namen zusammengefunden. Liebevoll „Krisenkinder“ benannt, umringen sie jetzt ihre neuen Schutzpatrone. Die Hausherren Michael und Timm stehen fieberhaft lässig gegenüber des Türrahmens und meiner krausen Stirn. Jeans, Bier und der zweite Mann stützen den jeweils anderen durch die Nacht. Zu schwach ist die Pappe des blauen Einbands, um ihr Geschwafel in Form zu halten. Mein Schwindel stammt nicht von der Schwüle des Sommers.

Wann habe ich das letzte Mal gekotzt? Wohl als ich, Angehörige einer Generation, die laut dem Urteil anderer weder ein noch aus weiß, genug hatte von Ratschlägen der Erzeuger, Therapeuten, Pharmaindustrie, Kommilitonen und Seelsorgern der Popkultur. Man hat stets die Wahl, den Brei weiterhin zu schlucken. Die Ratlosigkeit ist ein Konstrukt. Perfider als die Krise. Die vermeintlich zum Erwachsenen gereiften Ratgebenden händigen ihre Weisheit an die Kinder der Krise aus, mit dem Herz und Verstand der Abwrackprämie. Respekt und Intellekt hat der Insolvenzverwalter schon ausverkauft. Diese Grundvoraussetzungen für einen klugen Dialog fehlen ebenfalls im Bankrottleitfaden der Generation Neon, den Michael und Timm mit der heißen Nadel für die Partygäste genäht haben. Planen oder treiben lassen schmeckt so schal und wenig reflektiert wie das Bier, das sich auf dem Tisch vor mir schämt, seitdem ich es vorhin abgelehnt habe. Diese Lektion lernt man auf Parties schnell, wenn man gehaltlose Konversationen und schwerfällige Komplimente vermeiden möchte. Doch auch ohne spendiertes Bier tappt man in diese Falle. Gefangen im Übermut und Überdruss einer Gruppierung, die nicht mehr miteinander gemeinsam hat, als das ausgewaschene Etikett einer Generation. Die Zähne des Fangeisens graben sich noch ein Stück weiter in mein weißes Fleisch, als die Bierlaune in der Küche das Trendthema aufreißt, das der neue Leistungssport der besser Verdienenden zu sein scheint: Kinder kriegen, Kinder benennen, Kinder ankleiden. Timm legt mir väterlich und bedeutungsschwanger den Arm um die Schultern. Ich schiebe ihn weg. Die Entscheidung für ein Kind ist so privat, dass eine Kampagne des Bundesfamilienministeriums in den Bereich der Nötigung fällt. Sie ist so vorherrschend weiblich, dass eine Fürsprache für meinen Bauch aus einer doppelt männlichen Perspektive nichtig sein muss. Der mütterliche Impuls in mir würde Timm jetzt gerne über das Haar streichen und sagen: „Ach Timm, mit dieser Geste und mit Nido hast du so weit am Nerv einer jungen Frau vorbeigeschossen wie Alice Schwarzer an der katholischen Kirche. Aber ich erkläre es dir noch einmal.“ Doch zunächst muss ich husten. Alice und ich haben uns am Wodka und am vorausgegangenen Satz verschluckt: „Eine Abtreibung bricht die Schwangerschaft nämlich nur ab. Sie macht sie nicht rückgängig. Auch dieses Kind, obwohl ungeboren, wird seine Eltern auf seine Art ein Leben lang begleiten.“ Mein Hustenreiz hat sich zu einem beklemmenden Gefühl in meiner Kehle ausgeweitet. Ich wusste nicht, dass der Vatikan als Geldgeber des Buches einsprang. Auch hatte ich nicht erwartet, dass zwei Männer Mitte 30, die für sich in Anspruch nehmen, das Sprachrohr und die starke Schulter für die Generation junger Erwachsener zu sein, es wagen würden, das Thema Abtreibung in vier Sätzen und so eindeutig wertend abzuhandeln. Das Schöne ist, dass ich mit Timm, Michael und den anderen Männern dieser Party nie gemeinsam abtreiben werden müssen, dem Kind einen Namen geben oder ihnen die vom Schweiß nasse Stirn küssen werde. Planen oder treiben lassen ist das gedruckte Abbild des Mannes, den ich ohne Entschuldigung oder ein Lächeln mit seinem Bier an der Theke stehen lassen würde. Nach sechs Minuten oder den ersten drei Seiten. Das geschulte Auge erkennt die sorgsam geklebten Pflaster, die unsichere Blender des Nachts auftragen, ganz so, wie sich der Vamp die roten Lippen lackiert. Dieses Make-Up ist meist die schnoddrige große Klappe, die noch vor der ersten Atempause entlarvt, dass es in diesem Gespräch nicht um intelligenten Dialog geht, und schon gar nicht um Freundschaft.

Der lebensbejahend gestaltete Wegweiser weckt tatsächlich beim Lesen den Eindruck, man unterhalte sich mit einer unangenehmen Person. Ort des Geschehens ist eine Jungspundparty, auf der vom Rausch beseelte Menschen im Überschwang, in Überheblichkeit und mit falsch verstandenem Charme den anderen Gästen ihre Lebensweisheiten als die Wahrheit verkaufen wollen. Zu nah steht dieser jemand neben dir und bricht sich die Zunge bei dem Versuch, seine Reife in dein Ohr zu raunen. In dieser Manier sind die nächtlich dozierten Aggregate aus der Zeit des Erwachsenwerdens von Timm und Michael aufs Papier geflossen. Der für ihr Buch gewählte Sprachstil ist derart umgangssprachlich, kumpelhaft anbiedernd und unschlüssig, dass man einen sehr guten Willen und mehrere Gläser Sekt im Bauche tragen muss, um davon mehr als sieben Seiten am Stück zu bewältigen. Nüchtern stellt sich das Gefühl und Wissen ein, man lese ein stilistisch inakzeptables Buch mit keinerlei Informationswert. Vielleicht bin ich sensibel, doch wer mir mit Sprache nicht das Herz brechen oder zumindest durch seine Wortwahl andeuten kann, dass es sich lohnt einen Schritt weiter zu gehen als den ersten Plausch, darf niemals in die Nähe meines Bücherregals. Nachdem der Paragraphenhunger des Juristen selbst seinen vertrauten Ton durchsetzt hatte, verwarf ich den Gedanken an Kinder mit dunklen Locken und ging. Die Rigorosität, mit der du Anfang 20 deinen Lebensplan umstößt und neu aufziehst, sagt laut vor dir auf, dass du nicht ratlos, sondern entschieden bist.

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Ich blättere weiter. Befremdlich wird die Publikation der Weisungsgeber Timm und Michael endgültig, als ich den Eindruck erlange, der Sprachduktus erfordere das Zitieren von Gruner+Jahr-Publikationen, und nicht das eigene Wissen und Gewissen: „Diese Fakten kenne ich aus der sehr lesenswerten GEO-Titelgeschichte.“ „Das fragte ich meine Schulkameradin im Neon-Interview.“ „Dieser Diät-Tipp aus der Brigitte funktionierte tatsächlich.“ „So lautet die Prognose des Karriere-Rechners der Wirtschaftszeitschrift Capital.“ „Es ist denkbar, dass du der Gala mehr Philosophisches abgewinnst als diesem Buch.“ Das ist die niedere Spielart des crossmedialen Marketings.

Michael zückt das Magazin zur Fibel: die Neon. Das Schmiergelpapier für die Kanten deiner popkulturellen Persönlichkeitsstörung. Der Rat suchende Leser wird hier in einem sechsseitigen Vorabdruck darüber informiert, welches Druckwerk des Chefredaktionsduos ihn nun drei zusätzliche Schritte an die Hand nehmen möchte. Für den Vorabdruck aus Planen oder treiben lassen das Kapitel über das Verhältnis zu den eigenen Eltern zu stellen, macht Sinn. Zumindest für die Stimulation einer weiteren Kaufentscheidung: das Elternmagazin Nido. Kläre ich endlich die Beziehung zu meinen eigenen Eltern, nähere ich mich dem Gedanken daran, selbst ein Elternteil zu werden. Eine tickende biologische Uhr verlangt nach einem neuen Stapel plüschig geschriebener Anweisungen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Verlagsprodukte versuchen werden, unser Leben in vermarktbare Abschnitte zu teilen. Nido ist für das Elternteil mit hohem Niveau: „Das Magazin für Eltern, die häufiger Fisch mit Stäbchen als Fischstäbchen essen.“ Diese Art Eltern haben sich vermutlich auch eher schon einmal mehr treiben lassen, als abgetrieben zu haben. Die Eigenanzeige des Verlagshauses Gruner+Jahr für das Edelelternmagazin schlägt der Leser zwei Seiten hinter der Anleitung zur gesunden Abgrenzung von den Erzeugern auf.

Michael und Timm grinsen zufrieden. Wenn ein Magazin gut läuft, ist es ein ökonomisches Muss, eine Line-Extension der Marke hier und da zu wagen. Daher muss das Produkt auch nicht neu gedacht werden. Genutzt wird die Option, mit einem lieblos zusammengeflickten Schriftstück schnell etwas dazu zu verdienen, um sich in München möglichst satt ein Nest zu bauen.

„Für wen soll nun Planen oder treiben lassen der handfeste Ratgeber sein?“ frage ich in den Hohlraum. „Für die jungen Erwachsenen zwischen 20 und 35. Für die junge Generation, die vor den wichtigen Entscheidungen des Lebens phobisch zusammenzucken.“ Voraussetzungen zur Aufnahme in diese Zielgruppe sind aber nicht nur das Alter und das Klammern an die Ratschläge zweier unwesentlich älterer Männer, sondern die soziale und ethnische Herkunft, ein marginales Interesse an Politik, Religion und anderen höheren Fragen. Blond, wohlgenährt und zart gebildet tummeln sich die Adressaten zwischen den Zeilen. Liebe kennen die Küken zudem vorrangig aus dem Netz und das Netz aus den furchtsamen Texten von Bernd Graff. Denn nur dann können sie den Schlusssatz des Kapitels Liebe finden erleichtert unterschreiben: „Die Liebe schafft es, noch unergründlicher zu sein als das Internet.“ Dieser Spruch muss ein Klassiker der Verführungsstrategien auf Closing Parties von Tech-Konferenzen sein und ist somit vielleicht der einzige philosophische Ansatz und handfeste Ratschlag des Buches.

Die anachronistische Einstufung des Netzes als ein trübes Gewässer verrät viel über die Tiefe der Tuchfühlung, in der das Autorenteam in den Seelen der von ihr umgarnten Generation taucht. Das war ein verlegenes Fummeln mit dem Mädchen, das noch keine Mutter werden will. Das junge Ding hat dich an die Wand gevögelt und ihr Wissen mit dir geteilt. Nicht du mit ihr. Ein Magazin, ein Buch und ein eigens annonciertes Lebensgefühl flechten den Welpenkorb für die ewige Jugend und Unmündigkeit. Softpsychologischer Selbsthilfejournalismus schürt Neurosen und den Bedarf nach weiteren Hilfen, befördert aber nicht den Flirt und die Hingabe an das erwachsene Ich. Neon und seine Brut schaffen ein Biotop unter der Glashaube, in der man nicht flügge werden soll, um weiterhin Beistand in Anspruch nehmen zu müssen. Die Sonne scheint nur in der Glaskuppel.

Dreht man die Kuppel auf den Kopf finden wir die Protagonisten im Goldfischglas wieder, und dort spinnt sich der Lebensleitfaden ein weiteres Stück. Zentrales Thema der „Generation Neon“ ist nämlich neben der gläsernen Decke zum erwachsenen Handeln das Leben als Einzelkämpfer: Allein unter Freunden, Allein im Pro-Ana-Forum, Darum bist du Single, Wie ehrgeizig bist du? – Fragestellungen, von deren Kern Magazinjournalismus nur weit entfernt winzige Antworten bereithalten, und daher in jeder vierten Ausgabe den Pflug durch das gleiche Feld ziehen kann.

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Trotz zu viel Bier und Partylärm hat Timm aufgehorcht: „Dieses Buch ist kein Ratgeber-Buch. Was dieses Buch durchaus kann: Hinweise darauf geben, welche Möglichkeiten sich bieten und welche Gefahren drohen, wenn man mit seiner Lebenseinstellung eher zu der Planen- oder Treibenlasser-Sorte-Mensch gehört. Die Schlussfolgerungen muss jeder für sich alleine ziehen.“ Hat er also doch Vertrauen in die Eigenständigkeit der kleinen Schwester? Ist die Titulierung des Buches auf dem Buchrücken als „handfester Ratgeber für die Suche nach dem richtigen Weg durch dieses verflixt komplizierte Leben“ nur ein Marketinginstrument, das Rat verspricht und keinen bietet? Das nach Orientierung suchende Menschen einmal wieder an ein Stück Papier, nicht aber an einen Menschen heranführen soll? Ihnen einen Geldschein aus der Tasche zieht?

Planen oder treiben lassen ist eine leere Versprechung, die mehr Wunden aufstößt als eine arglos schlechte Unterhaltung bei einer miesen Clubnacht: Da die Lektüre sich nicht bessert, egal wie aufmerksam du nach einem goldenen Fingerzeig Ausschau hältst; der Gesprächspartner nicht doch unerwartet ein Glücksfall ist; für dich nicht doch unerwartet ein Groschen fällt oder dein Herz aufgeht. Auch eigene Schlussfolgerungen lassen sich nicht ziehen, da das Werk durch Abwesenheit von Werten, Haltung und den Blick über den Tellerrand der Hochmut glänzt. Dieses Buch als eine gewinnbringende Lektüre empfinden zu können setzt voraus, über die Angelpunkte eines jungen Erwachsenenlebens niemals mit Freunden, Fremden oder der Familie gesprochen zu haben. Die dreigefächerte Couch aus Neon, Nido und Buch entlässt ihre Absolventen in eine Welt, die wir sonst nur nach dem Dippen ins Tütchen erfahren. In Wahrheit existiert sie nicht.

Ich öffne zwei Bier und strecke sie Timm und Michael entgegen. Bislang kannte ich sie nur vom Lesen. Ich verrate nicht sie, sondern ihnen etwas. Der Verrat an der eigenen Tätigkeit liegt in ihrem ersten Buch. Sie haben mit dieser service- und gewinnorientierten, freudlosen Schreibe die Aufgabe ihres journalistischen Herzbluts besiegelt. Es gilt nun für sie, mit Mitte 30 die eigene Ratlosigkeit zu überwinden. Ich biete ihnen mein Ohr. Ein nächtliches Gespräch mit einer jungen Frau, die ganz anderen Dingen zuhören will, als ihren Ratschlägen, bringt sie nach sechs Jahren Berufsjugend jetzt vielleicht wieder auf ausgewachsene Gedanken.

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