Der Geschmack von Beton

von Ariane Sommer

Das Schnappen des Schlosses in der Wohnungstür begrüßt mich zu Hause. Abgestandene Stille versucht, in meinen Kopf zu kriechen. Ein schneller Knopfdruck füllt den Raum mit Licht und Stimmen, die mir auch in meinem von zuckendem Erwachen durchsetzten Schlaf versichern, dass ich noch da bin. Die Mädchen von Next Top Model flackern in meinem Wohnzimmer, fast kann ich sie berühren, ein Armstumpfjunge im Kongo neben seiner starrgesichtigen Mutter, eine undefinierbare blaue Flüssigkeit wird von einer Binde aufgesogen, “Mit der globalen Finanzkrise enden 25 Jahre des Wohlstands”, sagt die Ohneunterleibsfrau aus den Nachrichten, ein Eisbär, nicht Knut, auf einer winzigen Scholle treibend, im Gazastreifen brennt irgendetwas, auf MTV lächelt mich der Schritt von Madonna an, irgendwo auf einer Pressekonferenz spreizt Ahmadinejad seine Lippen, feuchtglänzende Zähne entblößend. Die Stimmen zerren an meinen Synapsen, ich reduziere sie, bis sie nur noch ein Summen sind und schmiege mich an mein Spiegelbild im Fenster, das meine Berührung kühl erwidert, die erste des Tages.Draußen verglüht der Himmel, die Dämmerung setzt ein, durchbrochen von scharfkantigen, blauflimmernden Diamanten, einer über dem anderen, Reihe um Reihe, ein Meer aus Hochhäusern, hinten wird ein neues gebaut, die Welt, ein Igel mit Betonstacheln.
Menschen sitzen vereinzelt in den erleuchteten Glaskästen vor dem Fernseher, dem Computer, mit den Nippeln der Tastaturen und Fernbedienungen spielend.
Aus einer Fensterspalte irgendwo unter mir steigt Frank Sinatra’s Stimme auf, wie Rauch, voll Verlangen von Verlangen singend.
Mein iPhone surrt, warum eigentlich nicht wePhone? Eine Nachricht von ihm. „Schaffe es heute doch nicht. Nächste Woche gleiche Zeit?“ Kurzer Phantomschmerz in meiner Brust. Welt der nicht eingehaltenen Versprechen, das Größte von ihnen, auf das ich all meine Hoffnungen und Träume gesetzt habe, eines, das nie gemacht wurde.

Ein Mann steht im Fenster im Hochhaus mir gegenüber, wie ich, gegen das Glas gepresst. Hunger höhlt mich aus, aber alles, was ich habe sind ein paar verdorrte Chicken Nuggets im Pappkarton und eine angebrochene Flasche Wein auf dem Wohnzimmertisch. Ich giesse mir ein Glas voll bis an den Rand, leere es in einem Zug und wiederhole das Prozedere.

Der Mann im Hochhaus gegenüber steht immer noch am Fenster. Seine Linke hält etwas vor sein Gesicht, ein Fernglas, während die Rechte rhythmische Bewegungen in der offenen Hose vollzieht. Kurz hält er inne, als er sieht, dass ich sehe. Dann zieht er sein Teil aus der Hose. Der gesichtslose Mann drängt sich an die Scheibe, seine Bewegungen jetzt marionettenhaft und ruckartig.
Ein Narr in seinem gläsernen Käfig gestapelt über andere und dahinter mehr Narrenkäfige, bis an den Horizont.
Er wird Flecken hinterlassen, die in der Morgensonne vertrocknen werden.

Weit unter uns im fluoreszierenden Licht auf dem Beton, ein einzelner Baum, in den knorrigen Ästen ein verhedderter Ballon, den der Wind im Kreis peitscht.

Ich nehme einen letzten Schluck aus dem Weinglas und lächele zum ersten Mal an diesem Tag. Das Klirren ist überraschend klangvoll.
Für einen Sekundenbruchteil sehe ich sein Gesicht, unverdeckt, die Linke mit dem Fernglas auf Schulterhöhe, die Rechte nutzlos in der Hose, festgefroren, wie mein Lächeln. Über mir der Himmel, um mich die kalte Luft, unter mir der Beton. Ob ich ihn mit meinen Zähnen durchbrechen werde können?

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