von Boris Guschlbauer
Dieser Verkehr, so tödlich wie eine neunköpfige Hydra. Schlägt man ihr einen Kopf (=Taxi) ab, so wachsen zwei neue nach, die mit ihrem gefräßigen Maul nach alles und allem schnappen. Jeder Schritt sollte deshalb gut überlegt sein, denn jeder könnte der letzte sein in diesem Chaos aus tieffliegenden PKWs, LKWs, Mikro-, Mini- und Linienbussen. Hupen übertönen das Leben, lassen jeden Fußgänger bis ins Mark erschüttern, die Lautstärke warnt, verschafft sich freie Fahrt – die Trompeten von Jericho, die die letzten standhaften Mauern in einem zum Einsturz bringen.
Schweiß rinnt mir literweise von der Stirn, durchnässt das T-Shirt und die, seit mehreren Wochen nicht mehr gewaschene Jeans. Die starke Hitze drückt auf das Gemüt und positioniert sich vor mir wie ein unüberwindlicher Koloss. Der Smog schmerzt in den Augen und Lungen, am Abend wir der Rotz schwarz gefärbt sein.
Mit raumgreifenden Schritten überquere ich die Sharia al-Azhar, den Inbegriff des Highway to Hell. Dabei halte ich einen waghalsigen Zickzackkurs ein, um nicht unter die Räder der vielen Autos zu gelangen, rutsche auf Ölflecken und Kotze aus, umkurve Pferdescheiße und springe geschickt über Müllberge hinweg.
Der Gehweg bietet kaum ein sicheres Rückzugsgebiet. Metallbeschlagene Räder von Sack- und Handkarren bahnen sich einen zermalmenden Weg über jeden Mittelfußknochen, ein Junge auf einem verrosteten Fahrrad rast unachtsam durch die Menge und Chaiträger schlängeln sich durch das Leben – ihre dampfende Fracht immer kurz vor dem Umkippen. Händler tragen Teppiche auf den Schultern, die langen Enden holen alles von den Beinen was ihnen zu nahe kommt. Funken von Messerschleifern sprühen, einem Feuerregen gleich, auf den Gehweg und setzen Haare in Brand. Mehrere Verkäufer reinigen die Straße vor ihren Läden, indem sie Wasser aus einer Flasche auf den Asphalt und meine Beine spritzen.
Von überall dringen Stimmen von Verkäufern an meine Ohren und werden zu einer Art Chor der Verdammten – es ist unmöglich einzelne Wörter zu sondieren. Hände greifen nach meinem T-Shirt, alle wollen wissen woher ich komme, wie ich heiße, ob ich verheiratet bin, Kinder habe, ob ich nicht Papyrus kaufen will, antique, antique, good price, good price. Dort hinten befindet sich ihr Geschäft, oder das ihres Bruders, oder das ihres Bruders Freundes, oder des Cousins.
Unweigerlich beschleunige ich, um den Verkäufern zu entkommen, aber sie halten mit mir Schritt, bis sie vom nächsten abgelöst werden, der mich bereits wie ein Geier umkreist.
Eine Frau mit Lepra zerfressenem Gesicht kauerte im Dreck am Straßenrand und hält mir eine Packung Papiertaschentücher entgegen und fordert Geld für ihre Medizin. Von der anderen Bettlerin sieht man nur die faltige Hand, der Rest ist von einem schwarzen Chador bedeckt und lässt sie so wie einen schwarzen Fels am Wegesrand erscheinen. Verwahrloste Kinder springen mir entgegen, sie wollen Bakschisch und folgen nun auf Schritt und Tritt. Bakschisch, Bakschisch…
Verzweifelt ringe ich nach Ruhe, will alles an mir abgleiten lassen, aber irgendwie will es am heutigen Tag nicht funktionieren. Die undankbare Dualität in mir ist voll ausgeprägt, ich werde nicht eins mit dem Chaos von Kairo. Unruhe beginnt mich zu überwältigen und gerate so aus dem wichtigen Gleichgewicht. Alles und alle werden zum unüberwindlichen Endgegner. Die Hitze, der Verkehr, die vielen Menschen und der Müll sind die 36 Kammern der Shaolin, die ich niemals lebendig überstehen werde. Das steht fest.
Meine letzte Zuflucht, bevor der Kopf mit einem lauten Knall explodiert, ist die Al-Azhar Moschee inmitten der Altstadt von Kairo. Aus Erfahrung weiß ich, dass in allen Moscheen der Welt Ruhe und Frieden zu finden ist.
Also hetze ich den Minaretten am smogverhangenen Horizont entgegen, werfe meine Badeschlappen in die Ecke der Eingangshalle und suche mir einen ruhigen Platz auf dem Teppich im Innenhof des Gotteshauses. Ein junger Mann beginnt leise zu singen, andere murmeln Suren aus dem Koran vor sich hin. Sonnenstrahlen tauchen die Minarette in eine sanftes Licht und fluten den Innenhof mit Gold. In diesem Augenblick bemerke ich, wie sich die Ruhe einen direkten Weg ins Herz bahnt. Der Stress fließt von mir ab, als führe ein klarer kalter Gebirgsbach direkt durch mich hindurch. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und schlafe ein.>/
Im Traum bin ich Robinson Crusoe auf der einsamen Insel der Glückseligkeit. Der Bart ist lang, das Haar verfilzt, ein Lendenschurz bedeckt meine Genitalien, ich trinke die Milch aus Kokosnüssen, schlage Bambus für eine rudimentäre Hütte und habe irgendwie Feuer gemacht. Die Ruhe ist ein Teil von mir, nie wieder will ich erwachen, zu schön ist die Einsamkeit auf dieser Insel inmitten von Kairo.