Teresa Bücker sucht den „hommes à femmes“ und findet Verachtung für das System DSK.
Er sieht ihr in die Augen. Dann gibt er ihr seine Hand und hält ihren Blick. Er zittert leicht. Dominique Strauss-Kahn versteht dies als Entschuldigung. Die Situation berührt ihn. Selten in seinem Leben hat er die Möglichkeit, Reue zu zeigen, angenommen. Er widersteht der Notwendigkeit um Verzeihung zu bitten nicht. Dieser Akt wird nicht der letzte sein.
Der ehemalige Chef des Internationalen Währungsfonds könnte seinen Lebensabend damit verbringen, sich für sein respektloses Verhalten gegenüber Frauen zu entschuldigen. Persönlich. Er könnte bei jenen anfangen, die er als “Material” bezeichnete, oder den Nackten, die für ihn ohne Kleidung nicht eindeutig als Prostituierte oder unentgeltlich an einer Sexparty teilnehmende Frauen zu erkennen waren. Oder bei seiner Frau. Bei seinen vier Kindern. Bei den Französinnen und allen anderen Frauen, denen durch das Verhalten von Menschen wie ihm ihre Würde genommen wird. Bei den Frauen, die in einer Welt der Dekadenz, in der Prostitution dazu gehört wie edler Champagner, nicht mehr als eigenständige Personen auftauchen, sondern nur noch als williges oder gekauftes oder vergewaltigtes Fleisch zwischen Männern jongliert werden.
In dieser Erzählung haben Frauen kein Gesicht mehr, ihre Persönlichkeit weicht ihrem Körper und weibliche Sexualität besteht nur noch aus Verfügbarkeit. Dominique Strauss-Kahn und seine Geschäftsfreunde, die einander Escortgirls zu Hintergrundgesprächen mitbringen wie einen Wein als Gastgeschenk, könnten sich entschuldigen bei den Männern, die sie mit sich gleich setzen, wenn sie ohne Wimpernzucken und Zweifel signalisieren, dass der von ihnen gewählte Umgang mit Frauen die Norm sei.
Weniger als nach einem Jahr nach Beginn der “Strauss-Kahn-Affäre” in New York fingen auch die französischen Behören an gegen Strauss-Kahn zu ermitteln. Er soll an “organisierter Zuhälterei in Bandenform” beteiligt gewesen sein, in deren Rahmen Sexarbeiterinnen für Partys in Frankreich und den USA vermittelt wurden. Im Zuge dieser Ermittlungen hat eine junge Belgierin ausgesagt, von Strauss-Kahn und einem weiteren Partyteilnehmer vergewaltigt worden zu sein. Trotz Aussage bei Behörden in Lille und bei der Polizei in Belgien hat die Frau bislang keine Anzeige erstattet. Die französischen Behörden ermitteln daher derzeit nur wegen des Verdachts auf Zuhälterei, Unterschlagung von Gesellschaftsvermögen, Betrug und Geldwäsche. Dominique Strauss-Kahn gibt an, nicht gewusst zu haben, dass die an den Zusammenkünften teilnehmenden Frauen dafür bezahlt wurden, mit ihm und seinen Geschäftsfreunden Sex zu haben. Sein Anwalt fügte hinzu: “Das ist eine Herausforderung – wie wollen sie eine nackte Prostituierte von einer nackten Dame unterscheiden?”
Aus dieser Logik lässt sich ein krudes Selbstbewusstsein und selbstvergessenes Verständnis der Geschlechterverhältnisse folgern: egal ob nackt, leicht bekleidet, bezahlt oder naturgeil – jede Frau musste fraglos zu Sex mit den anwesenden Männern bereit sein. Allein betrachtet klingen die Sexpartys mit all den nackten Schönen und Mächtigen befreit und bohème. In Anbetracht der mehrfachen Vergewaltigungsvorwürfe gegenüber Strauss-Kahn und einem realistischen Blick auf die Arbeitsbedingungen von Sexarbeiterinnen tun sie das weniger. Studien zufolge werden zwei Drittel der Prostituierten von ihren Freiern tätlich angegriffen, bei der überwiegenden Mehrheit der Frauen liegt Alkoholmissbrauch und die Abgängigkeit von harten Drogen vor. Die standartisierte Sterblichkeitsrate unter Sexarbeiterinnen in Großbritannien ist sechsmal so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung. Gegenüber der Presse gab DSK an, Prostitution “schrecklich” zu finden. In SMS gegenüber Geschäftspartnern bat er darum, ihm “Material” mitzubringen.
DSK gilt als “hommes à femmes”, ein Mann, der Frauen liebt. Die Legitimation dieser schmeichelhaften Umschreibung scheint für ihn darin zu bestehen, über möglichst viel „Material“ zu verfügen. Als sei die Technik des Hochschlafens für mehr Macht und Machterhalt dort, wo heterosexuelle Männer unter sich bleiben, darauf beschränkt, Männlichkeit vor den Augen anderer durch das Besitzen von Frauen zu bestätigen. Er betört sich mit der Illusion der Macht um nicht zuzulassen, was größer ist: Den Verlust von Kontrolle im Angesicht einer Gleichen. Er umgibt sich ständig mit Frauen, doch bleibt ihnen immer fern. Dass ausgerechnet gekaufter Sex mit Schwächeren seinen Status affirmieren soll, überrascht dabei am meisten – gelingt doch Zugewinn an Wissen und Lebenserfahrung nur durch die Annahme von Herausforderungen.
Wenn ein „homme à femmes“ ein Verehrer der Frauen ist, dann ist er Feminist. Wer Frauen liebt, will ihre Freiheit, will Gerechtigkeit für sie und Glück. Ein solcher Mann würde demnach immer für sie Partei ergreifen, für ihre Rechte sprechen und seinen Ruf in Wort und Tat bekunden. Dominique Strauss-Kahn ist kein „hommes à femmes“.
„Entschuldigen Sie mich, während ich vor Überraschung in ein Nickerchen falle“ kommentiert die Autorin des us-amerikanischen Frauenportals „Jezebel“ Erin Gloria Ryan den Vorwurf der gemeinschaftlichen Vergewaltigung gegenüber Strauss-Kahn, der als bislang jüngste Anschuldigung in einer Reihe von Vorwürfen von sadistischer Gewalt steht. Dominique Strauss-Kahn ist bislang nicht verurteilt worden. Doch ganz gleich, was tatsächlich zwischen den anklagenden Frauen und ihm passiert ist, es wäre für Personen mit Einfluss, Ansehen und der Liebe zum weiblichen Geschlecht nur angemessen, über Gewalt gegen Frauen zu sprechen. Denn Medienberichterstattung verkehrt das Verhältnis von Frauen, die vergewaltigt, genötigt oder belästigt werden, und den Männern, die dies tun oder zu Unrecht einer Straftat beschuldigt werden. Vergewaltigung ist eines der Verbrechen mit der höchsten Dunkelziffer. Laut UNIFEM wird eine von fünf Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer einer Vergewaltigung oder versuchten Vergewaltigung. In der aktuellen, repräsentativen Untersuchung des Familienministeriums „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ gaben 40 Prozent der befragten Frauen an, körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr erlebt zu haben. Unterschiedliche Formen von sexueller Belästigung hatten 58 Prozent erlebt. 8.000 Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung erwachsener Personen wurden laut Bundeskriminalamt 2010 angezeigt. Man geht davon aus, dass nur eine von zwanzig Vergewaltigungen der Polizei gemeldet wird. Multipliziert mit der Dunkelziffer spielen sich allein in Deutschland täglich über 400 schwere sexuelle Gewalttaten ab.
Schon jede versuchte Vergewaltigung ist ein gewalttätiger Übergriff zu viel. Für keine von ihnen gibt es eine Rechtfertigung, keine geschah im Überschwang, keine im gegenseitigen Einverständnis. Ernüchternder, als die hohe Zahl der Gewalttaten, die niemals zur Anzeige kommen, ist dabei nur, wie selten diese Taten öffentlich verurteilt werden – insbesondere von prominenter männlicher Seite. Denn eine Entschuldigung im Namen anderer muss kein Eingeständnis von Schuld bedeuten. Sie könnte aber der Anfang einer Verhaltensänderung sein und den Realitätsblick schärfen.
Wer entschuldigt sich? Wer bittet die tausenden von Frauen, die heute vergewaltigt werden, die in diesem Moment gegen ihren Willen angefasst werden, die Angst haben, sich machtlos fühlen, die nichts mehr fühlen, die verkauft werden, die ihre Traumata immer wieder durchleben, die sich nicht trauen, mit jemandem zu sprechen, die vor Scham keine Therapie in Anspruch zu nehmen, die sich nicht mehr anfassen lassen können, ohne dass es ihnen die Kehle zuschnürt, die sich mit einer Rasierklinge sechs Mal in den Arm schneiden, bevor der seelische Schmerz ein wenig nachlässt, um Vergebung? Wer verspricht ihnen, dass es nie wieder passieren wird? Wer sagt den Tätern, dass sie so etwas nie wieder tun werden? Wer steht auf, wer sagt und beweist, dass dies Monster ausmacht, aber keinesfalls den Mann?
Der Mann, der im Frühjahr des letzten Jahres noch als vielversprechender Präsidentschaftsanwärter der französischen Sozialisten galt, könnte an dieser Stelle übernehmen. Er könnte nachdenklich zurückblicken, oder kritisch nach vorn. Nichts. Er schweigt. „Charmant, selbstbewusst, lebenslustig“ gebe er derzeit Interviews, so der Journalist Michel Taubman, der schon eine Biografie Strauss-Kahns verfasste und als häufiger Gesprächspartner des Franzosen gilt. Taubman beschreibt in seiner Aufarbeitung der Geschehnisse “Die Affäre DSK, die Gegen-Nachforschung” den Vergewaltigungsvorwurf an Nafissatou Diallo wie folgt:
(Diesen Absatz eingerückt) “Sie sieht ihm in die Augen. Dann betrachtet sie ostentativ sein Geschlechtsteil. Das Fleisch ist schwach. Dominique Strauss-Kahn versteht dies als Angebot. Die Situation amüsiert ihn. Selten in seinem Leben hat er die Möglichkeit eines Vergnügens ausgeschlagen. Er widersteht der Versuchung einer Fellatio nicht. Der Akt ist sehr schnell.”
Die Mitarbeiterin des Sofitel New York zeigte Dominique Strauss-Kahn am 14. Mai 2011 an und beschuldigte ihn, sie zum Oralverkehr gezwungen zu haben. Der Journalist Edward Jay Epstein zeichnete die Geschehnisse im Hotel in seiner Investigativreportage „Three Days in May“ anhand von Überwachungsdaten nach und wies nach, dass der Zeitraum, in dem aus Sicht von Nafissatou Diallo eine Vergewaltigung geschah und es laut DSK zu einer einvernehmlichen sexuellen Handlung kam, nicht mehr als sieben Minuten gedauert haben kann. Die forensischen Ermittlungen belegten Spermaspuren von DSK und Speichelflüssigkeit der Hotelangestellten in der Suite. Sofern die Geschehnisse im Hotel einer sexuellen Handlung zuzurechnen sind, ist klar, welcher der Beteiligten daraus Befriedigung zog. Die Art des Sexes bei der Frauen während der Fellatio an einem Mann zum Orgasmus kommen, ist nicht einmal eine eigene Pornogattung.
Ein „homme à femmes“ aber verwechselt Verführung nicht mit Verfügbarkeit. Man hat dem „Frauenversteher“ Dominique Strauss-Kahn bislang die falschen Fragen gestellt. „Sie vollbrachten es, durch die Erwiderung eines lüsternen Blicks, durch die schiere Präsenz ihres Penis in einem hastigen oralen Akt, die Frau, die sie nur wenige Minuten kannten, in einem einvernehmlichen Akt der Lust zu beglücken?“ Aber mehr noch: einem Mann, dessen Karriere auf die Präsidentschaft einer Nation zulief, deren Motto „liberté, égalité, fraternité“ ist, könnte man vor allem Politisches abverlangen. Wer eine ausschweifende sexuelle Freiheit für sich in Anspruch nimmt, die den Kauf von Sex mit einschließt, müsste doch seinen Partnerinnen und allen Frauen ebendiese Freiheit und Gleichheit bieten wollen. Zur Auflösung einer Doppelmoral und für die Anerkennung von Sexarbeit als Arbeit, müsste Prostitution entkriminalisiert werden und die Frauen und Männer, die hier ihren Lebensunterhalt verdienen, volle Arbeitnehmerrecht erhalte. Sex könnte theoretisch ohne Ausbeutung verkauft werden, Prostitution müsste nicht gleichbedeutend mit Gefahr für und Gewalt gegen Menschen sein.
„Sexarbeit ist eine ökonomische Frage, keine moralische: In einer Welt, in der Scham und sexuelle Gewalt nach wie vor harte Währungen sind, ist die Tatsache, dass die Sexindustrie ein ganz normaler Wirtschaftszweig geworden ist, ein Symptom, und zwar nicht des sozialen Niedergangs, sondern der ökonomischen Ausbeutung der Frauen“, schreibt die Autorin Laurie Penny in „Fleischmarkt“.
Sex ist wunderschön und menschlich. Gewalt ist es nicht. Menschen, die Mann genug und Frau genug sind um Präsident werden zu wollen, brechen die Norm und sprechen darüber. Sie engagieren sich für Gleichberechtigung, kulturellen Wandel und gegen Gewalt. Und sie ändern eine Gesetzgebung, die Sexarbeiterinnen kriminalisiert, ausgrenzt, verurteilt und ausbeutet. So lange Gewalt gegen Frauen minütlich verübt wird, lautet die schmerzhafte Aufgabe genau das zu benennen und dagegen zu arbeiten. In der Auseinandersetzung mit der Affäre DSK darf es nicht um die Frage nach der Glaubwürdigkeit einzelner gehen, sondern um Antworten auf hunderttausende Verbrechen im Jahr.
(letzter Absatz wieder kursiv) Eine Frau und ein Mann sehen sich in die Augen und betrachten einander. Sie verstehen es als Angebot an den jeweils anderen. Die Situation entspannt sie. Selten in seinem Leben haben sie einander nicht vertraut. Sie widerstehen der Versuchung des partnerschaftlichen Miteinanders nicht. Der Akt dauert an.
(Dieser Text erschien bereits in einer gekürzten Fassung in der Wochenzeitung “Der Freitag”)