erscheint im Verlag Antje Kunstmann am 5. September
Es ist nicht so, als ob auf die klischeehafte Oberflächlichkeit der Irgendwasmitmedienbranche nicht schon exzessiv drauf gehauen wurde, aufschlagen, zuschlagen, immer wieder. Bücherweise. John Niven meisterlich und mit unfassbar anarchischem Mitekelhumor in „Kill Your Friends“, Frédéric Beigbeder ebenso meisterlich und abgrundtief fesselnd in „39,90“ und viele andere in Schattierungen oder Ableitungen. Aber keiner hat es bisher geschafft, so eloquent, so menschlich und so greifbar über die zwischen Konsumterror und der Suche nach einem höheren Sinn gefangenen selbst ernannten Opinion Leader zu schreiben, wie die Berlinerin Arezu Weitholz in „Wenn die Nacht am stillsten ist“, ihrem jüngst im Verlag Antje Kunstmann erschienen Romandebüt.
In einem Kammerspiel lässt sie Anna, unpoetisch aber romantisch, optimistisch aber beladen mit einer schweren Vergangenheit und anstrengender Gegenwart, am Bett ihres stillen und beinahe regungslosen Partners Ludwig eine Lebensbeichte ablegen. Ludwig, Medienmensch, Hedonist, poetisch aber gefühlskalt, liegt in einer Art Wachkoma und gibt keine Widerworte, während Anna ihm, sich und uns von einer bezaubernd unverdorbenen Warte aus ihr eigenes und das gemeinsame Leben erzählt. Dass beide Geheimnisse voreinander hatten, die nun zur Sprache kommen oder alte und neue Wunden aufreißen, die Entwicklung ihrer Beziehung und die Frage, ob Ludwig absichtlich eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat, um aus dem Leben zu scheiden, das für ihn beruflich eine Wendung zu nehmen schien, ist das dramatische Moment, der dramaturgische Faden, der den Roman am Laufen hält. Leben eingehaucht bekommt er aber vor allem durch die Wort-, nein, die Satzmacht der Autorin, die dieses Werk selbst dann außergewöhnlich machte, wäre es eine bloße Aneinanderreihung von Sätzen. Weitholz versammelt in „Wenn die Nacht am stillsten ist“ Sätze von so absoluter und gleichzeitig nonchalanter Schönheit und Wahrheit, dass man sie gerne absätzeweise mit jemand ganz besonderem teilen möchte. Dass sie dabei meistens unerfreuliches oder wenigstens unappetitliches transportiert, spielt für Momente keine Rollen. Form und Funktion gehen bei der Autorin meisterhaft Hand in Hand und wenn sie ihre Protagonistin bittere Wahrheiten in Sätzen aussprechen lässt, die auch der Refrain deines neuen Lieblingslieds sein könnten, dann ist das reine Berechnung. Und natürlich soll die romantische Anna mit all ihren Problemen, ihrer Vorgeschichte, ihrem Lieben und ihrem Verlassenwerden der Gegenentwurf zum verlassenden, zum kalten und nur sich selbst und die Symbole des Konsums und der Hochkultur liebenden Ludwig sein, ein guter Mensch, vielleicht sogar so etwas wie eine sympathische Verliererin. Charakterfest selbst in der Krise, barmherzig vor allem gegenüber anderen. Wenn es in dieser Geschichte einen Sympathieträger geben würde, denjenigen, auf den man alle seine Empathie verwenden würde, dann wäre es nicht Ludwig.
Versuchte Arezu Weitholz also ein Plädoyer für die Überlegenheit der emotionalen Tiefe gegenüber der hedonistischen Oberflächlichkeit zu halten? Wohl kaum. Ihr Buch lässt am Ende keine Gewinner übrig, aber vielleicht wenigstens ein bisschen Hoffnung. Hoffnung, dass der Schein dem Sein höchstens ein Spiegel ist, die Fläche für Reflektion und die Möglichkeit zur letztendlichen Erkenntnis, dass alles Leben nur einem Punkt zustrebt. Und an diesem Punkt ist es Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen.
Till Erdenberger