Nacht in Nepal

Im Oktober 2010 verabschiedete der Bundestag das neue Atomgesetz, welches die Laufzeit der deutschen Kernreaktoren um durchschnittlich 12 Jahre verlängerte. 100 000 Bürger gingen daraufhin auf die Straße, um gegen die Laufzeitverlängerung und der Atomkraft im allgemeinen zu demonstrieren. Ein menschlicher Lindwurm bahnte sich den Weg durch Berlin, um den Bundestag zu umzingeln. Aber Angela Merkel juckte das einen Scheiß und aß genüsslich ihre Roulade mit Kartoffeln, während vor ihren Toren die Menge frustriert abzog. Kurz darauf, am 11. März 2011 bebte die Erde vor Japan und ein Tsunami überrollte das Atomkraftwerk von Fukushima. In Block 1 bis 3 kam es zur Kernschmelze, der radioaktive Gau war perfekt. Große Mengen an radioaktiven Material wurden freigesetzt.


Plötzlich war in Deutschland alles ganz einfach. Das Gesetz der Laufzeitverlängerung wurde zurück genommen. Bis zum Jahr 2022 sollen nun nach und nach alle Atomkraftwerke vom Netz gehen. Das wiederum ärgert die Atomlobby gewaltig. Sie sehen ihre Pfründe schrumpfen. Laut einer Studie kommen Gewinneinbußen von rund 22 Milliarden Euro auf die Energiekonzerne zu. Drohgebärden folgen. Ein Deutschland mit nur erneuerbarer Energie wäre nicht möglich. Stromengpässe würden entstehen, wenn nicht sogar Stromausfälle. Nachts könnte es deshalb dunkel bleiben.
Ich sage dazu: Perfekt! Solange man nicht weiß, wohin mit all dem radioaktiven Müll, kann es gut und gerne ein Leben mit Stromengpässen geben. Denn es funktioniert. Ich habe es am eigenen Leib erfahren…

Vor etwa vier Stunden habe ich die Grenze von Indien nach Nepal überquert und dabei geduldig die Einreiseformalitäten über mich ergehen lassen. Danach hieß es eine gefühlte Ewigkeit in der Gluthitze des Grenzstädtchens auf meinen Bus warten, der mich raus aus der Ebene und rein in die Berge des Himalaja bringen sollte. Dieser Bus, ein fahrbares Wrack, wäre in Deutschland schon vor Jahrzehnten vom TÜV aus dem Straßenverkehr entfernt worden. Bis auf den letzten Platz wurde das Gefährt mit Menschen, Tieren und Gepäck gefüllt, so dass die restlichen Fahrgäste noch auf dem Dach um ihre Plätze rangen. So überladen quälte wir uns nur langsam durch die Schlaglöcher auf das Dach der Welt.

Und da befinde ich mich nun. Mein Platz genau über der Hinterachse des Busses lässt mich bei jeder Unebenheit ordentlich durchschütteln. Nepalesische Schlager dröhnen aus den Lautsprecherboxen des Busses, vereinzelt singen junge Mitreisende den Text mit. Schnell ist die Sonne hinter den Bergen versunken und die Nacht senkt sich wie ein schwarzes Tuch über die wild bewachsenen Berge, Hügel und Täler. Zum einen ist es ein angenehmes Gefühl durch die Dunkelheit nicht mehr in die Abgründe blicken zu können, denen der Bus zu oft zu nahe kommt, zum anderen will ich die Stadt Tansen nicht allzu spät erreichen.

Es ist stockdüster, als wir unser Ziel erreichen. Ich torkele aus dem Bus und finde mich in einer Schwärze wieder, dass man kaum die eigene Hand vor Augen erkennen kann und der Mond, der eine etwaige Helligkeit bringen könnte, hat sich hinter einem der Berge versteckt.
„Mal wieder Stromausfall!“ meint ein nepalesischer Mitreisender und wird von der Dunkelheit verschluckt. Geblendet von den Scheinwerfern des Busses stehe ich da und weiß nicht wohin. Ich bin neu in Tansen, alleine, orientierungslos, verloren. So tue ich zaghafte Schritte in die Nacht und als ein Mensch in meinen eingeschränkten Sehkreis tritt, frage ich ihn nach einem Hotel in dieser Stadt.

Der Rezeptionist empfängt mich mit einer Kerze in der Hand. Im seichten Lichtschein folge ich ihm durch die dunklen, engen Gänge des Hotels und bleiben vor einer Türe stehen. Als er in das Zimmer tritt, leuchtet er es mit der Kerze aus. Mich trifft dabei beinahe der Schlag. Das Zimmer gleicht im Schein eher einer Gefängniszelle als einem Hotelzimmer. Es hat kein Fenster, ist so groß, dass gerade ein Bett hinein passt, die Wände sind von früheren Gästen voll gekritzelt, Bad und WC befinden sich irgendwo am Ende des Hotelflurs. Als noch eine Küchenschabe durch das Zimmer huscht, weiß ich, dass dies Zimmer nicht einer Gefängniszelle gleicht, wie ich zuerst dachte, nein, es ist mein Grab. Die Vorstellung hier in der Dunkelheit zu liegen, ohne Fenster, ohne Platz zum bewegen, in Umklammerung mit Küchenschaben lässt mich ordentlich gruseln und dann die Flucht ergreifen.

Zurück beim kleinen Busbahnhof, lege ich mich auf die Bank und schlüpfe in den Schlafsack. Alles ist besser als im eigenen Grab zu übernachten. So lausche ich den Gesang der Straßenhunde, eine Nachtigall singt Lieder, die Sterne erscheinen und ich kann die Milchstraße erkennen. Plötzlich fühle ich mich so klein auf dieser Welt, so unbedeutend, trotzdem komplett mittendrin im Leben. Meine Gedanken lösen sich in der Unendlichkeit des Alls auf, die Geräusche verblassen und ich falle in einen kurzen, aber intensiven Schlaf.

Als ich erwache, stehen mehrere Nepalesen neben mir und betrachten mich neugierig. Sie haben heißen Chai und fritierte Teigwaren dabei, die sie mir anbieten. Als ich an dem Heißgetränk nippe, kommen die ersten Sonnenstrahlen über die umliegenden Berge gekrochen und überziehen das Leben mit Gold. Geblendet von der Helligkeit, wärmt mich der Chai von innen, atme ich die reine  Bergluft und erinnere mich nicht daran, wann ich das letzte Mal so einen wunderbaren Sonnenaufgang erlebt habe. Dank dem Stromausfall hatte ich die abenteuerlichste Nacht und einen der schönsten Morgen meines Lebens. Ich frage mich nur, wie es werden wird, wenn ich die Hauptstadt Kathmandu erreiche, in der allabendlich die Stromversorgung zusammenbricht. Die Nächte werden mich dem Leben nahe bringen und zur Erleuchtung führen. Nach Deutschland werde ich deshalb frühesten im Jahr 2022 zurückkehren.

zalando.de - Schuhe und Fashion online