Und Kennedy war vielleicht doch keiner von den Guten. Stephen King und die dystopische Versuchung


Tollwütige Mörderhunde. Trucks, die sich mit anderen Maschinen verbünden um die Menschheit zu unterjochen. Mädchen, die es Feuer regnen lassen. Kuscheltiere und durchtrennte Achillessehnen. Wahnsinnige Krankenschwestern mit Hang zur Folterei und Amputation und Fernsehshows, die zur Menschenjagd ermuntern. Nach einer kleinen Vielzahl seiner Büchern war ich mit vierzehn durch mit dem Autor Stephen King und widmete mich der deutschen Nachkriegsliteratur, der Philosophie und der amerikanischen Literatur der Gegenwart. Zu letzterer gehörte King nicht dazu. Das zumindest dachte ich. Ich hätte schwören können, mich dem Phänomen Stephen King ab jetzt immer entziehen zu können. „Der Anschlag“ hat mich jedoch eines besseren belehrt.

Stephen King ist im Olymp der zeitgenössischen, amerikanischen Hochliteratur angekommen und hat in diesem Jahr, in dem sich Kennedys Todestag am 22. November zum 50. mal jährt, einen fantastischen Roman vorgelegt, der am historischen Selbstverständnis von Gut und Böse zweifeln lässt und nebenbei ein Bild der amerikanischen Provinz der späten 50er und frühen 60er Jahre zeichnet, das man mit solcher Präzision und detailverliebter Zärtlichkeit lange nicht gelesen hat und das ihn auf eine Stufe mit Geschichtenerzählern wie Irving stellt.

Der durchschnittliche High School Lehrer Jake Epping bekommt die einmalige Chance (die sich gar nicht als so einmalig herausstellt) durch ein Zeitportal zurück in das Jahr 1958 zu reisen, um das fünf Jahre später stattfindende Attentat auf John F. Kennedy zu verhindern. Eine Art heilige Mission, die das bereits geschehene Schicksal Amerikas in andere Bahnen lenken könnte, in vermeintlich bessere. Doch das Schicksal, die Geschichte, das bereits Geschehene scheint sich gegen eine Einmischung zu wehren und legt Jake mehr als nur einen Stein in den Weg.

Selten lagen in der literarischen Gegenwart der Vergangenheit der utopische und der dystopische Gedanke so eng beieinander, selten wurde stärker am zarten Gerüst des amerikanischen Traums und der Legende eines liberalen Amerikas unter John F. Kennedy gerüttelt wie hier. Zudem erzählt King mit „Der Anschlag“ eine der ganz großen Liebesgeschichten und zeigt auch dadurch seinen Hang zum Paranormalen. King will keine Fragen beantworten und bezieht doch Position im Wirrwarr der Verschwörungstheorien um den Mord an Kennedy und dem Attentäter Lee Harvey Oswald, dessen Leben und Motive einem nie näher gebracht wurden als in diesem Buch, dem 51. von Stephen King und wahrscheinlich sein bestes.

(JF)

Stephen King “Der Anschlag”, Heyne Verlag, Hardcover & Taschenbuch

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