An der Endhaltestelle stolpere ich verschlafen aus dem Zug. Es ist noch viel zu früh für klare Gedanken, weshalb ich mir einen Chai kaufe und behutsam daran nippe. Während ich versuche den restlichen Schlaf zu überwinden, werde ich von zahlreichen Rikschafahrer umringt, die mir ihre Dienste zu einen good price anbieten: „Bodhgaya 80 Rupees, only!“
Vor dem Bahnhof befindet sich ein Meer aus schwarzgelb lackierten Motorrikschas. Ich handele mit dem mir vertrauenswürdigsten Fahrer hart um den Preis. Es dauert lange, bis die Rikscha so mit Menschen vollgestopft ist, dass kaum noch Platz zum atmen bleibt. Zeit genug also, dass die vielen Bettler auf mich aufmerksam werden und einer nach dem anderen mir seine Hand entgegen streckt, damit sie mit Rupien gefüllt wird. Meine plumpe Ausrede „I have no money!“ geht dabei im lauten Rufen meines Fahrers unter, der unentwegt das Ziel ausruft, um so weitere Fahrgäste anzulocken.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beginnt die Fahrt. Der Zweitaktmotor tuckert, die schwarzen Abgase stinken, ich kralle mich am Dachgestänge fest, damit ich bei meiner Größe nicht den Kopf stoße, wenn wir wieder durch eines der vielen Schlaglöcher springen.
Zwischen den Schlaglöchern gibt es kurze Momente Gaya zu bestaunen, eine der ärmsten Städte im ärmsten Bundestaat von Indien. Müll brennt auf den Straßen, der tiefschwarze Qualm verdunkelt das Leben und frisst sich geradewegs einen Weg durch die Nase und Lunge. Eine Leiche liegt am Wegesrand, die Menschen steigen achtlos über sie hinweg. Zerlumpte Straßenkinder versuchen der Rikscha zu folgen, um Geld von mir zu fordern, aber ihre Beine sind von der Kinderlähmung zu sehr in Mitleidenschaft gezogen, als dass sie auch nur annähernd mithalten können. Wundersame Maschinen rattern ohrenbetäubend am Straßenrand und spucken Flüsse an Öl aus. Autowracks werden ihrem Schicksal überlassen und an jeder Wand kleben große Fladen an Kuhscheiße zum Trocknen, später werden sie als Brennmaterial für die Öfen verwendet.
Eine halbe Stunde später erreiche ich den kleinen Ort Bodhgaya. Hier hat Siddharta Gautama nach langer Meditation unter dem Bodhibaum Erleuchtung erlangt. Just in dem Moment, als ihm ein Blatt auf den Bauch fiel, wurde er zu Buddha, dem Erleuchteten. Aus diesem Grund ist Bodhgaya ein beliebter Pilgerort für spirituelle Menschen aus aller Welt und Magnet für noch mehr Bettler, denn wer sich eine Reise hierher leisten kann, der kann auch den ärmsten der Armen geben.
Mit unzähligen Bittstellern im Schlepptau checke ich also in ein billiges Guest House am Stadtrand ein, werfe mich auf die durchlegene Matratze, puste ordentlich durch und hoffe, dass das Guest House seinem Namen „Shanti“, was so viel heißt wie Friede, auch wirklich gerecht wird. Und es scheint Wort zu halten, denn mit den zarten Klängen einer Sitar falle ich in einen kurzen, aber erholsamen Schlaf. Als ich erwache spielt die Sitar noch immer und ich mache mich auf die Suche nach der Quelle der Musik…
Auf dem Balkon im zweiten Stock des Guest House sitzt ein Japaner und spielt das indische Saiteninstrument. Neben ihm gammelt ein junger Sadhu, ein heiliger Mann Indiens, Verehrer des Gottes Shiva. Zur Unterstützung ihrer Meditation rauchen Sadhus gerne Haschisch, die indische Polizei toleriert ihren Besitz der Droge.
Und so greift der Sadhu nach seinem Chillum, füllt es mit einer Mischung aus Haschisch und Tabak und reicht mir die rohrartige Pfeife entgegen. Ich setze mich und beginne mit der kräftigen Inhalation. Augenblicklich spüre ich die Wirkung der Droge und relaxe. Nach zwei weiteren Runden der Inhalation beginnt das Haschisch in die andere Richtung auszuschlagen und ich werde unruhig. Längst gelöste Probleme dringen mit Macht an die Oberfläche, ein schlimmer Gedanke löst den nächsten ab. Kalter Schweiß tropft mir von der Stirn.
Flucht in mein fensterloses Zimmer. Da einmal mehr die Elektrizität ausgefallen ist, liege ich im Dunkeln, was dem Abbruch des Zustroms negativer Gedanken nicht förderlich ist. Kein beruhigender Klang der Sitar dringt mehr durch die Luft, nur das Surren der unzähligen Moskitos und es scheint der Ton des Untergangs – wütet die Malaria bereits schon im Blutkreislauf? Da hilft nur noch Tageslicht…
Die unbarmherzige Mittagshitze schlägt mir entgegen. Der Gestank von Kuhscheiße, verrottetem Müll, Dieselabgase und Schweiß reizt die Schleimhäute. Der Qualm eines gigantischen Feuers verdunkelt den Horizont. Autos und Rikschas hupen ausdauernd, Fahrradfahrer machen unentwegt von ihrer Klingel Gebrauch. Heilige Kühe werden umfahren, auf Straßenkinder und mich wird voll drauf gehalten. Vor einem Restaurant kauert eine ausgehungerte Frau auf dem Boden und verfolgt mit ihrem schalen Blick jeden Happen der Besucher. Nackte Kinder liegen im Dreck und bewegen sich nicht.
Ich fühle mich absolut konträr, passe nicht in diese Stadt, in dieses Land, auf diese Erde. Die Gerüche sind mir allesamt zu fremd, die Sprache ist mir unverständlich, die Vielzahl der Farben macht mich farbenblind, das Chaos ist undurchschaubar, meine weiße Haut leuchtet, als wäre ich radioaktiv verseucht. Ich benötige Ruhe, absolute Ruhe. Und an welchem Ort könnte man nicht mehr auf Entspannung hoffen als unterm Bodhibaum.
Der Bodhibaum befindet sich in einer sonnendurchfluteten Parkanlage, die man nur barfuß betreten darf. Sofort spürt man die Wärme des aufgeheizten Bodens an den nackten Füßen, eine Wohltat. Alles und jeder wirkt beseelt, die Besucher flüstern, buddhistische Mönche sitzen unter alten Bäumen und meditieren still vor sich hin. Das Gras wird bewässert und leuchtet grün, Blumen blühen, bunte Schmetterlinge flattern umher, Streifenhörnchen queren den Weg.
Hinter dem großen Mahabodhi-Tempel im Zentrum des Parks befindet sich der berühmte Bodhibaum. Oder besser gesagt der Ableger vom Ableger des ursprünglichen Baumes, da dieser von Ashokas zweiter Frau Tissarakkha zerstört worden war. Ich setze mich auf den Boden und betrachte die vielen Pilger, die den Ort der Erleuchtung betrachten…
Und ich weiß nicht genau, ob es an dieser Ruhe hier im Park oder dem Chillum liegt, denn plötzlich bin ich DER Moment und mir voll bewusst im absoluten hier und jetzt. Die Vergangenheit fällt wie überreifes Obst von mir ab, die Vorstellung einer Zukunft existiert nicht mehr. Ich spüre exakt jeden Herzschlag, spüre mein Leben, just in dieser Sekunde. Ich sehe die Blätter des Bodhibaums durch die Luft schweben und Pilger springen umher und sammeln sie auf. Ich höre das Gurren einer Taube in den Ästen und das Gebet eines buddhistischen Mönches. Ich vernehme das Plätschern von Wasser in kleine Gefäße und das Klicken der Fotokameras. Alles erklingt im Rhythmus meines Herzens…
Tatsächlich, hier bin ich, endgültig, ohne ein Ringen und einem Ringrichter, ohne Qualen, hinein geworfen in den Augenblick, ein schlohweißer Schwan. Wüsste ich es nicht besser, ich würde sagen ich bin erleuchtet.