Hat man erst einmal die kleine, mit Eisen beschlagene Eingangstüre gebückt und somit ohne ein Kopfstoßen durchquert, führt rechts eine schmale Treppe zwei Stockwerke hinauf. Dort angekommen, drückt sich ein kleiner Weg um den Lichtschacht des Riad herum und ein paar Eisenstufen hinauf auf den, wie ich ihn nenne, Aussichtsturm. Auf dieser Panoramaterrasse stehen zwei, mit weißem Plastik bezogene Liegen, auf der einen lässt sich Katharina nieder, auf der anderen ich selbst. Der Blick verfängt sich unweigerlich im endlosen Sternenhimmel, man kann den großen Wagen ausfindig machen und sich so in den Himmelsrichtungen orientieren, wobei man sich wahrlich sträubt Richtung Norden zu blicken, weil dort die Kälte des Winters Einzug gehalten hat. Umso mehr genießt man die laue Nacht, nicht zu warm und nicht zu kalt, so dass man keine Jacke über das Hemd ziehen muss.
Vom Luxusriad nebenan schweben Rauchschwaden von gebratenem Fleisch zu uns hinüber, funkelt Kerzenschein durch die Nacht und erklingen die Töne von marokkanischer Musik – qraqebs, eine Schellenart, bildet den Takt, dazu wird ausdauernd, emphatisch, und sich in Trance gesungen. Die Sufis halten nur im Musizieren inne, wenn von den vielen Minaretten die Muezzins ertönen, die ihr Allahu Akbar durch überforderte Lautsprecher dem Volk verkünden. Von allen Seiten fliegen nun Gottes Worte zu uns an den Aussichtsturm und legen sich wie ein, aus Worten gewobener Teppich über die Flachdächer der Medina von Marrakech. Leider bin ich der arabisch Sprache nicht mächtig, visualisiere mir aber, dass diese Worte direkt von Gott stammen – denn schließlich werden Suren aus dem Koran gesungen- und dass man aus diesem Grund diese Worte nicht wortwörtlich verstehen, sondern nur ihrem Klang lauschen muss, um sie zu verstehen.
Nach ein paar Minuten rollen Gottes Worte über den Dächern wie eine perfekte Welle aus, die sich am Strand bricht. Das Leben in den Riads nimmt wieder an Fahrt auf, die Musik der Sufis ertönt erneut, der Nachbar -ein Teppichweber- zerreißt sich das Maul über Katharina und mich, was ich wohl als Mann bei seiner neuen Nachbarin aus Deutschland verloren habe, und Mädchen aus Frankreich, die für ein Wochenendausflug in Marrakech unterwegs sind, machen sich hübsch mit Minirock und knappen Top, um mit dem Taxi in die Ville Nouvelle in den versnobten Lotus Club zu fahren, dort wo die reichen Franzosen ihr Geld auf den Kopf hauen, an Champagner nippen und ausgiebig das Tanzbein schwingen. Betrachtet man die Relationen, werden diese französischen Mädchen an diesem Abend mehr Geld ausgeben, als der durchschnittliche Monatsverdienst eines Marokkaners. Aber es ist ihnen egal, denn schließlich kommen sie aus dem reichen Westen und steigen erst aus dem Taxi aus, wenn der Fahrer um das Auto herum gelaufen und ihnen dann die Türe geöffnet hat. So ganz nach dem Schema: Master and Servant!
Die junge Dame Katharina ist Stipendiantin der Biennale Marrakech. Über einen Freund hatte ich Kontakt mit ihr aufgenommen, sie getroffen, und uns dann gemeinsam in der labyrinthartigen Medina wohlweislich verlaufen. Wir aßen Fisch am Straßenstand und tankten neue Energie mit einem Thé de la menthe, dem süßesten Nektar der Götter. Wir machten kurzen Halt im Café ohne Namen, in dem die Einheimischen der marokkanischen Fußballliga folgten und wie der zwölfte Mann auf den Flachbildschirm über der Eingangstüre starrten, und der grauhaarige Alte in seinem Rollstuhl genau an dem gleichen Platz saß wie schon einen Tag zuvor und an seinem Café Noire nippte, als wäre es sein Lebenselixier.
Als Katharina verkündete, dass sie noch eine Flasche Rosé, marokkanischer Marke, im Kühlschrank kalt gestellt hat und wir diesen auf dem Dach ihres Riads trinken könnten, sagte ich natürlich nicht nein. Und so erfragten wir uns den Weg zurück zum Jemma El Fna, dem Platz der Toten, wo nun Trommeln schlugen, Schalmeien erklangen und sich Schlangen dazu verbogen, und Affen an viel zu kurzen Ketten gehalten wurden und Windeln trugen, damit ihr Kot nicht die Straßen pflasterte, marokkanische Geschichtenerzähler erst zu erzählen begannen, wenn genügend Dirhams gesammelt waren und Checker mit schlechten Zähnen ihr Kiff an den Mann bringen wollten. Und als die untergehende Sonne das Minarett der Koutoubia Moschee in Blut tauchte, durchquerten Katharina und ich das Bab Laksour, ein kleines Tor in die Medina, und vorbei am Teppichweber, der uns beide genau musterte, und dann -Kopf eingezogen- hinein zur Eingangstüre von Katharinas Riad und hinauf auf den Aussichtsturm…
Immer mehr Sterne erscheinen und ich frage mich, ob es wohl am Alkohol liegt. Katharina schenkt trotzdem den Wein nach und wir quatschen uns zwischen den Sternbildern fest. Wir schweifen über Ländergrenzen hinweg, verlieren uns in Vietnam, im französischen Kolonialismus, reisen durch Frankreich über Italien in den Osten Europas, nach Belgrad, bis nach Odessa und nehmen die Fähre vom Hafen bei der Potemkintreppe über das Schwarze Meer nach Istanbul, um dann doch wieder im guten alten Berlin zu landen.
Unsere Gedanken fliegen so fern, obwohl wir uns in der Ferne befinden, und haben Marrakech um uns herum fast gänzlich vergessen, bis sich, ja bis sich die Muezzins wieder über die blechernen Lautsprecher bemerkbar machen. Das Allahu Akbar erdet, bringt uns zurück auf den Aussichtsturm des Riad, unter diesen Sternenhimmel, im Schein der Kerzen, die im seichten Wind flackern, unter diesen wunderschönen, fliegenden Teppich Gottes. Mit dem letzten Rest des Rosé stoßen wir auf Marokko an und erfreuen uns des Moments, denn dieser ist magisch.