Twitter ist orange.

„Was genau geht da schon wieder vor sich?“ So oder so ähnlich, muss es den durchschnittlichen Twitteruser_innen gehen, wenn wiedereinmal irgendetwas durch ihre Timeline huscht, was ganz schrecklich dramatisch klingt und mit der Piratenpartei zusammenhängen zu scheint. Meist zu erkennen an entsprechender Verschlagwortung, in den meisten Fällen durchaus humorig, wenn denn überhaupt verständlich. So steht das Hashtag #bongs für den zweiten Piratenparteitag in Bochum 2012. Die Herleitung dazu gestaltete sich folgendermaßen: Im Frühjahr 2011 gab es einen Parteitag in dem beschaulichen Städtchen Heidenheim in Baden-Württemberg. Unter dem Druck von 140 Zeichen und dem digital-bourgeoisen Bedürfnis sich über Kleinstädte zu belustigen wurde das Hashtag #dings geboren. Der Parteitag 2010 in Bingen wurde nachträglich mit #bings versehen. Beim zweiten Parteitag 2011 in Offenbach wurde das Hashtag #offenbings etabliert. #neubings steht für den Parteitag in Neumünster zu Beginn 2012. Schließlich #bongs für den Parteitag 2012 in Bochum. Meme, also kulturelle Sinneinheiten, verändern sich nach evolutionären Kriterien. Sie mutieren, werden selektiert und variiert. Macht es für Außenstehende jedoch nicht leichter ihnen zu folgen.

Und auch wenn die Tweetflut an Parteitagen der orangenen Problempartei, wie twitterfreudige Nicht-Mitglieder sie auch mal zu nennen pflegen, besonders dramatisch ist: Das deutsche Twitter ist das ganze Jahr von Piratenmitgliedern dominiert, die das Parteigeschehen kommentieren, meistens so, dass nicht-Parteimitglieder kaum verstehen können, was da eigentlich kommentiert wird. Twitter ist Teil der Parteifolklore und alle müssen zuschauen oder mitmachen. Oder sind zumindest gezwungen es zu ignorieren. Doch wie konnte das passieren?

Die Geburtstunde der US-amerikanischen Twittercommunity war wohl der Wahlkampf 2008, in dem Obama soziale Medien effektiv nutzte, die Geburtstunde in Türkei dagegen war wahrscheinlich die Protest rund um den Gezi-Park. Und in Deutschland? Ja. Irgendwie die Piratenpartei. Denn mit dem rasanten Mitgliederzuwachs der Partei 2009 wurde das Medium Twitter schnell zum praktischen Kommunikationswerkzeug für schnelle, unkomplizierte und effektive Vernetzung und Verbreitung. Und während Twitter in Deutschland sehr lange noch recht unbekannt war, vereinnahmte die Piratenpartei das Medium schneller, als den meisten anderen Nutzer_innen, besonders von anderen Parteien, lieb war. Die Grenzen zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Interna sind dabei verschwommen, viele Parteimitglieder merken nur bedingt, dass sie sich in einem öffentlichen Raum bewegen. Twitter ist auch ein Stammtisch für die Partei.

Und so ist es immer der gleiche Ablauf: Etwas mehr oder minder wichtiges passiert in den Reihen der Piratenpartei. Mitglieder empören sich. Über den Bundesvorstand, eine der Landtagsfraktionen oder einzelne Mitglieder, die im Alleingang die Ideale der ganzen Partei verraten haben sollen. Mit einem Tweet. Einem Satz. Einem Blick. Die Empörung ist meist verbunden mit drastischer Wortwahl, gerne unter der Gürtellinie. Die Debatte ist dann plötzlich da. Und manchmal geht sie über Monate.

Internethumor und -empörung ist sowieso meist äußerst drastisch. Und die Piratenpartei ist wohl die erste Partei, die ihre innerparteilichen Probleme von Beginn an in Form von Internethumor verarbeitet hat. Schon länger ist es Tradition aus jedem noch so unwichtigen Vorgang ein so genanntes -gate zu produzieren. (Übrigens der Anglizismus des Jahres 2013) #hosengate #servergate

Insiderwitze treffen auf die eh schon sehr insiderlastige Internetkultur. Für nicht allzu technikaffine Interessierte muss das eine veritable Hölle sein. Die meisten institutionalisierten Medien scheren sich kaum noch um die sich verschachtelnden Skandälchen, deren Entzifferung bisher immer nur mäßig gelang. Nun wirken sie erschöpft. Ausgelaugt von dem Versuch der Selbstbeschäftigung und Selbstverballhornung zu folgen, zu distinguieren.

Mit dem Bedeutungsverlust der Piratenpartei im medialen Zirkus, dem Mainstreaming von Twitter und Hashtagaktionen wie #aufschrei, die den Kurznachrichtendienst zu einer aktivistischen Plattform jenseits von Parteien etabliert haben, ist die Dominanz der Piraten in der deutschen Twittergemeinschaft zurück gegangen. Dennoch sind die Reste noch deutlich spürbar. Twitter ist bis heute von den Umtrieben der Piratenpartei klar dominiert. Und auch wenn es im kurznachrichtlichen Piratenwasser viele orangefreie Blasen gibt – wenn die Piraten etwas richtig erregt, dann ist Twitter zutiefst orange. Über Tage. Über Monate. #bombergate ist dafür das wohl deutlichste und jüngste Beispiel. Seit Mitte Februar 2014 zerlegt sich die Piratenpartei auf Twitter, überschlägt sich. Womit ist dabei eher zweitrangig, denn ein Hashtag folgt dem nächsten, Nicht-Parteimitglieder werden mehr oder minder zwangsläufig mit Pirat_innen konfrontiert, von ihnen vereinnahmt, greifen Aspekte des mobilen Circus Maximus humorig auf, kommentieren kryptisch, heizen die köchelnde orange Suppe an. Ein Stammtisch bleibt ein Stammtisch. Ein Stammtisch, auf dem einige wenige versuchen sowas wie seriöse Politik zu machen und wo nie ganz klar ist, wer da eigentlich welche Motivation hat sich an dem orange gefärbten Gemenge zu beteiligen. Was nicht immer unbedingt hilfreich ist, um potentielle Wähler_innen zu gewinnen. Denn wer möchte schon zusehen, wie sich gewählte Vertreter_innen über Kartoffelsalat, Landesschiedsgerichtsurteile oder irgendwas, was absolut nicht verständlich ist, selbst für Parteimitglieder, streiten?

Zunehmend wird eine Existenz auf Twitter auch ohne Piraten möglich, Twitter mehr und mehr Alltag für verschiedene Menschen, jenseits der orangenen Kleinpartei. Das Auftauchen der AfD, die sich gefühlt aus hartnäckigen Foren- und Blogkommentatoren und frustrierten Piraten zusammensetzt, hat den Fokus von den streitenden Piraten zu streitenden Ultrakonservativen verschoben. Und auch die Grünen haben mehr und mehr von Medien aufgegriffenen Twitterstreitigkeiten. Nicht zuletzt sorgt eine zunehmend bessere Organisation der Filtersouveränität durch Mute-, Listen- und Blockfunktionen dafür, dass die orange Welle immer mehr abschwächt werden kann.

Twitter ist außerdem zunehmend Realität für Politiker_innen. Was in den USA schon lange der Fall ist, hat sich in den letzten zwei Jahren auch in Deutschland gezeigt: Twitter ist ein politisches Medium, wo nicht nur über Politik geredet wird, sondern auch Politik gemacht wird. Die Piraten haben das von Anfang so betrieben – mit allen Konsequenzen. Und auch wenn die Piraten ihren Stammtisch Twitter mittlerweile teilen müssen, wurde Twitter von den Streitigkeiten und Aktionen der Piraten lange komplett dominiert und beim Wachsen begleitet. Und vielleicht erklärt das auch eine ganze Menge kryptischer Tweets. Auch wenn es eigentlich nicht wichtig ist. #ausgruenden

Von Julia Schramm

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