Es ist so weit, ich bekomme Platz im BLANK Magazin für eine Kolumne. Ich bin nicht witzig oder besonders tiefsinnig. Ich habe keine Ahnung von Popkultur oder Musik. Ich bin 33 Jahre alt und habe blaue Haare während ich meinem normalen Beruf nachgehe. Ich rege mich zu viel auf und habe bestimmt Bluthochdruck. Ich habe für fast alles kein Verständnis. Mein psychologisches Alter ist 80 und wenn ich mal wirklich so alt bin, möchte ich Fensterrentner werden. Ich werde nicht über Berlin schreiben, denn ich komme vom Land und habe keine Ahnung von der Großstadt. Ich bin also offensichtlich völlig normal und ich schreibe über Dinge, die mich interessieren und Angelegenheiten, die mich nichts angehen.
Den Berufswunsch Fensterrentner habe ich von einem meiner Freunde. Jonas ist der beste Fensterrentner, den ich kenne. Unter 35, wohnhaft im Erdgeschoss. Eine Studierenden-WG mit im Haus, die sich gerne im Garten aufhält. Ideale Vorraussetzungen, um sich in Unverständnis zu ergehen. Stellt euch vor, Jonas sitze zu Hause und will nur seine Ruhe haben und plötzlich sind da ein paar junge Menschen im Garten, die Popmusik hören, Becks Lime trinken und Frisbee spielen. Um da Feindbild zu vervollständigen tragen sie auch noch den Kragen des Poloshirts hoch gestellt. Die Popmusik dringt durch das offene Fenster (denn bei Jonas ist es warm und er muss es zumindest kippen) und Jonas, ja Jonas, weiß was zu tun ist: Techno. Laut. am besten aus den späten 90ern. Musik, die wir damals hörten, nachdem wir Drogen genommen hatten. Dazu steht er im Bademantel in Shorts auf der Terrasse und fuchtelt mit dem imaginären Krückstock. Sollte die Frisbee bei ihm landen ich bin mir sicher, er wird sie fangen und einfach nicht mehr herausgeben. Die jungen Leute sollen ihn halt mit ihrem Kram in Ruhe lassen. Ich würde an seiner Stelle genauso handeln, würde schimpfend am Fenster stehen und Menschen verscheuchen. Jonas und ich haben ausgemacht, dass ich ihn irgendwann besuche und wir dann beide im Bademantel auf der Terrasse stehen und mit dem Krückstock fuchteln, wenn die Jugendlichen mal wieder im Garten sind, ihre Kragen hochstellen und Popmusik aus dem Radio hören.
Und manchmal, wenn ich auf meiner Couch sitze und Kaffee trinken, unglaublich viel Zigaretten in meine Lunge pumpe und so tue, als würde ich messerscharf nachdenken, dann dämmert es mir: Ich bin alt. Ich bin verdammt alt. ich bin mindestens so alt wie mein Großvater und meine Großmutter zusammen. Ich habe weniger Verständnis als die beiden. Für alles. Ich habe kein Verständnis für Falschparker, für Gartenzwerghasser oder dafür, wenn Menschen ihren Kragen hochstellen. Ich verstehe die „jungen“ Leute nicht, die oft nur zwei, drei Jahre jünger sind als ich. Ihre Musik, ihren Kleidungsstil ihren Filmgeschmack. Dann dämmert es mir. Nicht sie sind das Problem. Ich bin es. Ich bin in alternativen Subkulturen groß geworden. Mit den Punks, den Grufits und bei den Pen&Paper-Rollenspielern. Bei Geeks und Nerds. Ich habe mich nie für den Mainstream interessiert. Ich habe es mir in meiner Nische gemütlich gemacht, damals in den 90ern. So sehr, dass ich immer noch darin stecke. „Früher (damit meine ich ich 1995 bis 1998) war alles besser“ könnte von mir stammen und dann erwische ich mich dabei, wie ich genau das sage. Ich bin nicht besser als die Reaktion, die ich ja so verachte.
Mir fehlt die geistige Flexibilität, einfach mal an zu erkennen, dass Menschen sich heute anders kleiden, anders sprechen und Subkulturen sich auch verändern. Nur weil es „meine“ ist, heißt dass nicht, dass sie sich nicht verändern darf. Manchmal passt mir eine Änderung nicht aber ist auch mein Problem – ich kann mich darüber aufregen oder es verdammt noch mal akzeptieren, dass Gruftimusik oder auch Punk heute anders klingen als damals, dass sich Inhalte verschieben und nicht mehr die „wahre reine Lehre“ gelebt wird. Den heute ist sie eh anders als damals und verdammt noch mal Stephan, du bist keine 16 mehr und musst dich wirklich nicht darüber definieren, was in den 90ern passiert ist!
Ich bin 34 und manchmal dann doch schon 80. Ich werde das ändern. Gleich, nachdem ich vom Fenster weg bin und mein Kissen verstaut habe. Dann werde ich das Fenster schließen, den Baum ansehen und mich fragen, mit wem ich da im stillen Hinterhof eigentlich die ganze Zeit geschimpft habe. Vermutlich mit mir.
Photo: Lukas Martini
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