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Frauen und Bücher Teil 1

Vielleicht ist es ein etwas verzerrtes Bild, was uns da hohl anlächelt. Vielleicht ist es auch einfach nur Business. Auf jeden Fall wird es dem nicht gerecht, was im Allgemeinen und speziell im Besonderen so gedacht wird. Egal ob die Familienministerin ein verquertes Weltbild beschreibend versucht Politik für Frauen zu machen. Oder die ehemalige First Lady die eigene und die unbedarfte Gier ihres Göttergatten ausschlachtet. Oder Julia Schramm der Unwichtigkeit die Krone aufsetzt und sich selbst zu etwas stilisiert, was es gar nicht gibt. Es tut einfach nur weh. Und wahrscheinlich wird es so weitergehen, denn Verlage scheißen zur Zeit so ziemlich jede junge Frau mit einem Buchvertrag zu, die es halbwegs unverletzt bis hier hin geschafft hat. Zum Wunden lecken lässt man sie dann jedoch meist alleine. Doch um das Bild zu entzerren stellen wir in dieser und den nächsten Ausgaben Bücher vor, die dem, was wir als progressiv betrachten, etwas Nahrung geben. Bücher, die einladen und nicht abschrecken. Bücher, die es tatsächlich wagen oder gewagt haben, die Welt neu zu beschreiben.

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Angela McRobbie
„Top Girls Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes“
(VS Verlag)

Angela McRobbie ist Professorin für Kommunikationswissenschaften in London und beschreibt in ihrer lesenswerten Studie popkulturelle Spannungsverhältnisse, denen Frauen ausgesetzt sind und die  feministisch degradierend Abhängigkeiten aufbauen, die in ihrem Erscheinungsbild so komplex sind, dass sie als diskriminierende Faktoren nur schwer zu erkennen sind. Unterhaltsam und lehrreich werden hier Filme und Ikonen zerpflückt, ohne all zu oft den Sinn für Konsum- und Alltagsrealitäten zu verlieren.

 

Laurie Penny
„Fleischmarkt –
Weibliche Körper im Kapitalismus“
(Nautilus, 2012)

Die Autorin des populären Blogs „Penny Red“ beschäftigt sich in diesem schmalen aber wichtigen Buch mit den Mechanismen, die dafür sorgen, dass Frauen sich einem medial und marktwirtschaftlich entworfenen Ideal unterwerfen, ohne sich den Folgen dessen überhaupt bewusst zu sein. Penny seziert und entlarvt den kapitalistischen Geist der Bevormundung als Instrument der Machterhaltung und der Unterdrückung.

 

 

 

Katja Kullmann
„Echtleben“
(Eichborn, 2011)

Katja Kullmann beschreibt und inszeniert sich in diesem erfrischend lakonisch erzählten Buch als Frau im Strudel der Empfindsamkeiten im Leben der über 30jährigen, die vom Individualismus getrieben eine neue Dimension von Wertigkeiten entdeckt, die Bestehendes ergänzen, notfalls substituieren und wie der persönlichen Ausweg aus der Konformität nicht zwangweise in einer Sackgasse enden muss. Wir nennen das hier mal angewandte Theorie und empfehlen diese Buch dringendst  Falls das jemanden zum Kaufentscheid bewegt: Es ist zuweilen sehr witzig. Stichwort ‚Emotionaler Klimawandel‘.

 

Simone De Beauvoir
„Das andere Gechlecht“
(Rowohlt, 1951)

Hipster-Grundlage und feministische Pflichtlektüre, zeitlos, intelligent, unnahbar. Simone De Beauvoir findet Worte und Sprache, von denen Feminismus noch lange zehren wird. Ihre Beziehung zu Sartre gilt als Musterbeispiel einer intellektuellen Ehe, radikal und idealisiert bis ins Letzte.

 

 

 

Testcard Nr.8
„Gender – Geschlechterverhältnisse im Pop“
(Ventil Verlag, 2000)

Der in Popkultur verhaftete, aber immer wieder bieder wirkende Ventil Verlag aus dem provinziellen Mainz, hat immer wieder versucht Momente der Popkultur theoretisch aufzubereiten und zu analysieren. Mit am Besten gelungen ist es in der mehr oder weniger halbjährigen Buchmagazin-Reihe Testcard, speziell in der achten Ausgabe, die vor nun mehr als einem Jahrzehnt die interessantesten Diskursansätze in sich vereinte und zuweilen dem Ganzen den Hauch einer neuen Sprache zu geben schien. Hier schwankt man zwischen Tradition und Moderne und doch sind Texte über und mit Überschriften wie „Nur scharfe Girlies und knackige Boys?  – Traditionelle und innovative Geschlechterbilder in Musikvideos“, „Harte Mädchen weinen nicht – Zum Umgang von Musikerinnen mit weiblichen Klischees“, „Nicht schlecht für eine Frau -Frauen als Produzentinnen von elektronischer Musik“ oder „Geschlechterverhältnisse und Gender-Debatte im Pop“ Pflichtlektüre für den Hipsternerdmetromacho von Heute.

 

Hannelore Schlaffer
„Die Intellektuelle Ehe – Der Plan vom Leben als Paar“
(Carl Hanser Verlag, 2011)

Liebe sorgt zuweilen für eine Gleichberechtigung der Geschlechter, die gesellschaftliche Normen umgeht und bestenfalls ergänzend verändern lässt. Elisabeth Schlaffer zeigt auf und an wie es gehen könnte, sucht und findet historische Beispiele, gelungene, gescheiterte, meist Ansätze, die Unzulänglichkeiten offenbaren und dennoch demonstrieren, dass Partnerschaft in unserer heutigen Zeit mehr bedeuten kann, als die monogame Ehe zwischen Mann und Frau . Ein Buch zwischen historischer Suche und gegenwärtlicher Betrachtung.

 

 

Diane Di Prima
„Revolutionäre Briefe“
(Eco Verlag 1981 (Originalausgabe), aktuell erhältlich bei edition 8)

1971 erschien Diane Di Prima lyrische Anklage der amerikanischen Regierung und Gesellschaft bei City Light in San Francisco. Zu diesem Zeitpunkt war Di Prima, die in den 50er jahren in Beatnik-Kreisen um Kerouac und Ginsberg ihre Erweckung und kritisches Bewusstsein fand und in den 60ern in Timothy Learys LSD-Kommune lebte, bereits eine der meistgehörten Stimmen der Hippie-Bewegung. Di Prima hat fünf Kinder von vier Männern und ist Pflichtlektüre für den lyrisch-emotionalen Ruck.

 

Eva Illouz
„Warum Liebe weh tut“
(Suhrkamp, 2012)

Illouz untersucht die Liebe als soziologisches Phänomen wie Marx einst die Ware im Kapitalismus. Dabei verliert sie jedoch weder den Menschen als individualisierte Funktionseinheit aus dem Blick, noch die Kraft der Romantik. Illouz beschreibt den modernen Menschen, ohne Allüren, ohne Besserwisserei.
(Teil 2 folgt) 
Elmar Bracht

Über falsch verstandene Treue
und neoromantische Antifolklore

von: Johannes Finke

“Nicht Untreue zerstört unser Beziehungsleben, sondern falsch verstandene Treue. Das muss sich ändern.” So leitete die Autorin Michéle Binswanger in der ZEIT ein Manifest(chen) unter der Überschrift “Die große Lüge” ein und sie steht damit nicht alleine da.

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Feminismus muss dahin wo es weh tut und das pseudo-religiöse Dogma der ehelichen Monogamie als männliches Behauptungswerkzeug ist für viele keines mehr, dass noch Anspruch hat dem gerecht zu werden, was wir leben und leben wollen. Oder zumindest viele. Oder einige. In einer Stadt lebend, in der Sex und Sehnsucht ständig und allerorten kollidieren, hat man oft das unangenehme Gefühl Zeuge von Unzulänglichkeiten zu werden. Das alles macht bei dem Thema nicht unbedingt Mut. Doch sollte es in erster Linie nicht um andere gehen, sondern um Selbstbestimmung und was man für Folgen daraus zieht. Nur dann kann man auch Vorstellungen entwickeln, die einen durch die Liebe leiten.

Auch der ZEIT-Autorin Michèle Binswanger ist bewusst (und das hat nichts mit ‘Eingeständnis’ zu tun), dass viele Menschen eine Sehnsucht nach Familie und Heimat in sich tragen, eine Sehnsucht von der viele glauben, dass sie vervollständigt, glücklich macht und der eigenen Existenz mehr Sinn verleiht, vielleicht sogar erst dann überhaupt Sinn verleiht. Ein Metaprogramm, das einsetzt, wenn man daran denkt gemeinsam mit jemandem Kinder zu haben. Wahrscheinlich beginnt da der monogame Gedanke sich als Ideal auszubreiten. Sich dann vorzustellen, man lebe in einer Beziehung, einem familienartigen Verbund, in dem letztendlich egal ist wer der biologische Vater ist, ist schwer vorstellbar. Zumindest geht mir das so. Mit was sich Menschen abfinden können ist eine andere Frage. Auch was Zeit und Anstrengung mit einem machen. Auch wenn mich die Vorstellung wie meine Freundin mit jemand anderen fickt bzw. dabei zu sein oder auch andere Szenarien mich zuweilen geil machen ist die Vorstellung sie führt bei einem Glas Wein mit jemand anderen intellektuelle Gespräche, fängt irgendwann dann an mit demjenigen zu knutschen und geht mit ihm heim, keine die mir gefällt und mit der ich glaube mich (zum jetzigen Zeitpunkt) anfreunden zu können. Das normative Moment geht meiner inneren Haltung ab. Erstmal möchte ich dass wir glücklich sind und uns glücklich machen. Die kleinstmögliche Einheit an Vertrauen. Der Kern gegenseitiger Zuneigung. Falsch verstandener Hedonismus ist da fehl am Platze.

Doch ich habe auch manchmal Lust auf andere Frauen, meistens weniger intellektuell (doch auch aus der intellektuellen Spannung kann Sex entstehen), sondern musisch und sexuell. Ich habe auch manchmal Lust Heroin zu nehmen oder jemanden eine ordentliche Abreibung zu verpassen. Aber ich mache es nicht, weil ich glaube, dass Freiheit sich in jedem Moment neu hinterfragen muss. Ich glaube, will man ‘Vorleben’ , weil man verändern möchte, muss man sich erst ‘Einleben’. Das Gefühl jemanden nicht ausfüllen zu können und deshalb teilen zu müssen, stelle ich mir nicht schön vor. Die Idee sich gegenseitig glücklich zu machen und Glück zu gewähren kann was anderes sein. Es geht um die Fragen ‘Was ist Ersatz?’ und ‘Was ist Ergänzung?’ und was man davon für sich akzeptieren kann.

Ich glaube um aus dem ‘Korsett’ der Monogamie entfliehen zu können, muss man Monogamie verstanden haben. Nur dann kann man Muster überwinden, die einen daran hindern sich frei und ausgefüllt zu fühlen. Und dann ist das Befreien der Sexualität aus der Ehe für alle Paare, die den Auftrag zu verändern, den Feminismus und den eigenen Erlebnishorizont ernst nehmen, oberste Bürger-, Hipster- und FeministInnenpflicht. Über das gemeinsame ‘Stopfen’ von Wissens- und Erfahrungslöchern kann man vielleicht gemeinsam an Punkte kommen, die es erlauben Dinge andenken zu können. Das Fleisch ist bekanntlich willig. Manchmal langt es ehrlich zu sein.

Letztendlich besteht trotzdem stets ein Ungewicht zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Man wäre gerne viel lockerer als man ist. Speziell in Berlin. Hier blühen die Neurosen in jedem Grünstreifen. Trotzdem, man möchte zeigen, dass man sich nicht mit dem zufrieden gibt, was Gesellschaft einem als Lösung vorschlägt. Man hat das Gefühl, es wird dem eigenen Lifestyle, den man im Begriff ist zu finden, nicht gerecht. Doch ich glaube um einen Wertewandel anzustoßen, darf man nicht die Hoheit über das eigene Handeln aus der Hand geben. Man muss den leider oftmals qualvollen Weg der Selbstfindung gehen. Die Moodmap ausbreiten, die Hashtags in den Rucksack packen und los gehts! Protest richtet sich auch immer gegen das eigene Glück, weil visionäres Bewusstsein auch den gesellschaftlichen Realitäten und der eigenen Zufriedenheit gerecht werden muss und die entspricht im Regelfall nicht dem Ideal. Nach wie vor glaube ich, dass es speziell in unserer offenen, globalen, kommunikativen und Ich-bezogenen Welt wahnsinnig schwer ist (und immer schwerer wird) Modelle zu finden, die es ermöglichen, dass Menschen sich grundlegende Fragen stellen. Dazu gehört zum Beispiel auch der oben angerissene Komplex, warum man irgendwann zu einem gemeinsamen Kinderwunsch kommt. Und grundlegende Fragen und der Versuch sie zu beantworten enden nun mal in der Phantasiewelt, in der Religion, in Weltanschauung, in Momenten in denen Metaphysik und Glauben mit zivilisatorischer Vernunft kollidieren. Unsere Waffen sind Rationalität und Hedonismus. Und vielleicht eine Form neoromantischer Antifolklore, deren Mäanderungen noch unabsehbar sind. Glaube und daraus resultierende Dogmen, Erlösungs- und Heilversprechen scheinen wahnsinnig schwer zu schlagen. Man munkelt der Papst bereiste jüngst Kuba, weil Fidel sich rückbesinnend auf seine Erziehung und dem Tod ins Antlitz blickend wieder dem Glauben zuwendet. Doch das geht jetzt zu weit.

Am Ende bleibt einem Liebespaar – modern, aufgeschlossen oder im Klischee verhaftet – nur die Chance dem Gefühl, dass man für- und miteinander empfindet, gerecht zu werden. Allein das ist schon Aufgabe genug. Doch zuerst natürlich Welt retten, Ego in Sicherheit bringen und sich so richtig austoben. Hier, in Berlin. Wo wir alle so edgy sind und dem Zeitgeist jeden Tag aufs neue beweisen wollen, wie sehr wie bereit sind, die uns auferlegten Fesseln zu sprengen. Wenn da nur nicht immer wieder diese Momente wären, in denen wir verwundet, verletzt und verlassen, ganz allein dasitzen und uns fragen, was wir denn diesmal wieder falsch gemacht haben. Denn Monogamie hat weniger mit Sex tun, vielmehr mit Verbindlichkeit und Vertrauen. Sex wird überschätzt. Das ist die Chance.

(Im Original erschienen bei: dasbiestberlin.blogspot.com)

Ein jÜdisches Gen namens Humor –
Oliver Polak

Polak ist ein komischer Jude. Ja, Sie haben richtig gelesen: Oliver Polak ist ein komischer Jude. Aber vielleicht lesen Sie diesen Satz auch falsch. Ich meine nicht, dass Oliver Polak ein komischer Jude ist, so wie man vielleicht denken könnte, dass Michel Friedmann ein komischer Jude ist. Nein. So meine ich das nicht. Oliver Polak ist witzig oder wenn ihnen das lieber ist: Oliver Polak ist lustig. Manchmal muss man die bittere Pille halt schlucken um lachen zu können und so ist es nicht verwunderlich, dass Oliver Polak mehr an die selbstreferentielle Incorrectness eines Woody Allens oder einer Sarah Silverman erinnert, als an den biergeschwängerten deutschen Stammtischklamauks eines Mario Barth.

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Polak ist schwarzhumorisch und selbstironisch und freut sich auch schon mal darüber, dass er in England auch einfach mal Deutscher sein kann. Denn Jude sein ist manchmal wirklich anstrengend. Da kommt es gelegen auch mal einen Song zu machen, der das eigene Leid persifliert: “Lasst uns alle Juden sein” heißt dieser Song, den Polak zusammen mit Erobique aus Hamburg aufgenommen hat. Und wie es sich für popkulturelle Kommunikation gehört, gibt es jetzt auch ein Video zu diesem Song, in dem sich unter anderen Malermeister Daniel Richter (der etwas gelangweilte Typ am Keyboard) und Hamburger Schule-Mastermind Dirk von Lowtzow die Ehre geben. Letzterer gibt dem Ganzen den letzten humoristischen Schliff: “Ich möchte Teil einer Judenbewegung sein”. Na dann, lasst uns alle mal Juden sein.

Oliver Polak trägt gerne bequeme und gerade geschnittene Jogginghosen. Natürlich solche mit den drei Streifen. Dazu Turnschuhe, Kapuzenpulli und Jacke. Er sieht immer so aus, als müsste er eigentlich gleich weiter und als sei ihm das alles etwas unangenehm. Doch unangenehm wird es erst einmal für das Publikum, denn der Panda aus Papenburg geht gerne mal an die Grenzen und stellt sich die wirklich wichtigen Fragen, denen sich ein deutscher Jude heutzutage stellen muss: Wie feiert man am selben Tag Mauerfall und Reichsprogromnacht und in welchem Kostüm? Oder taugt “Meine Oma ist in Auschwitz gestorben” als Anmachspruch? Fragen, die sich keiner zu stellen traut und die Polak beantwortet. Ohne falsche Scham. Unbekümmert. Extrem komisch.

Spätestens wenn Oliver Polak einem Türken versucht zu erklären, wie man jüdische Stand-Up-Comedy macht oder er erzählt wie eine Frau ihn mal fragt: “Sie sind ja Jude. Kann man davon eigentlich leben?”, spätestens dann wird klar, dass hier jemand auf der Bühne steht, der aus einer ganz anderen Generation wie Henryk M. Broder stammt und der seine ganz persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse einfach so in den popkulturellen Echoraum hinausposaunt. Und weil grandiose Selbstüberschätzung zu dieser Generation und zum Handwerk eines jeden guten Comedian gehört, verschont uns Oliver Polak auch nicht mit seinen Sangeskünsten: “Lasst uns alle Juden sein” heißt dieses zusammen mit dem Hamburger Indietronic-Helden Erobique produzierte Stück elegischer Verantwortungsmusik, welches das Leben feiert und das Publikum in einen kollektiven Rausch versetzt. Plötzlich ist man mittendrin und feiert seine eigene Bar Mitzwa. Eine solche Show hat es in Deutschland noch nicht gegeben, denn Polak bricht Tabus wie Bulimiker ihr Essen und gibt Deutschland damit etwas wieder, von dem man glaubte, es wäre diesem Land verloren gegangen: Jüdischen Humor. Dabei muss er nicht intellektuell sein um aufklärerisch zu wirken. Manchmal bringen einen die vermeintlichen kleinen Erkenntnisse des Lebens weiter: Es ist nicht einfach Frauen ins Bett zu quatschen, da hilft dir auch der Holocaust nicht weiter.

Das Live-Programm von Polak ist soeben als CD erschienen: “Jud Süß-Sauer. Die Show” heißt das gute Stück und ist überall im Handel erhältlich.

Wir verlosen 2 Exemplare, einfach bis zum 15. Dezember eine Mail mit dem Betreff “ich will auch Teil ener Judenbewegung sein” an verlosung[at]blank-magazin.de schicken und Glück haben. Rechte Wege sind natürlich ausgeschlossen.

berlinerweisse

Der Berliner Kunstherbst –
Zwischen Form und Format

Plötzlich war es da, das rot-goldene Farbenspiel in den Straßen, der Herbst war in die Stadt gekommen und mit ihm 40.000 Galeristen, Künstler, Kunstsammler und alle, die sich sonst noch so zu dem Dunstkreis der Kunst zählen. Bereits zum 15. Mal pilgert diese illustre Gesellschaft nun zu den grauen Hallen des Messegeländes. An der Peripherie der Stadt, zwischen Autobahnzubringern, Busbahnhöfen und griechischen All You Can Eat – Imbissen versammelt sich der Kunstbetrieb, in dem wohl einzigen Gebäude weit und breit, dessen architektonischer Anspruch über den der reinen Funktionalität hinaus geht. In diesem Jahr wurden die jungen Galerien aus dem Sektor Fokus in die Hauptausstellung integriert und nicht wie in den letzten Jahren separat behandelt. Aber die wohl größte Neuerung stellte hingegen die Kooperation mit der abc art berlin contemporary dar.

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Oft als kleiner Bruder des Art Forums missverstanden ist die abc genau eines nicht, und zwar eine klassische Kunstmesse. Mit einem Format, das zwischen Gallery Weekend und Ausstellung changiert, liegt ein großer Unterschied vor allem in der Themenbezogenheit der abc. Das mag zunächst einmal nicht verwundern, da die Initiatoren der abc auch die Gründer des jährlich stattfinden Gallery Weekends sind und damit bereits erheblich zur Berliner Kunst- und Kulturlandschaft beigetragen haben.

Das flexible Konzept der abc hat sich die letzten drei Jahre bewährt: jedes Jahr ein anderes Motto und ein anderer Ort. Durch diesen damit einhergehenden Prozess der Selbstreflexion gewährt die Ausstellung ein stetiges Anpassen an aktuelle Strömungen und Entwicklungen im Kunstbetrieb. Auch in diesem Jahr hat sie den Anspruch verfolgt, gegenwärtige Tendenzen im Kunstbetrieb nicht einfach nur abzubilden sondern zu hinterfragen und zu analysieren. Mit dem diesjährigen Thema light camera action lag der thematische Fokus auf dem Verhältnis zwischen Kunst und Film. Wie selbstverständlich wird das Medium Film in der zeitgenössischen Kunst verwendet, das Verhältnis zwischen Film und anderen Darstellungsformen kommt dabei in den meisten Fällen zu kurz. Der Film kann uns eine neue Perspektive auf unsere Umwelt gewähren, so zum Beispiel in Frank Stürmers Videoinstallation: In Untitled (Gondol) beobachtet man als Zuschauer das Geschehen eines Jahrmarkts von einem Riesenrad aus. Szenen, die zunächst belanglos und alltäglich wirken, offenbaren nur nach wenigen Sekunden der Beobachtung ihren Wert. Das vermeintlich banale wird einmalig und essentiell, die Riesenradfahrt zu einem ethnologischen Exkurs, der uns unsere Umwelt und die Menschen um uns herum näher bringt. Wo es Stürmer gelingt, uns durch das Medium Film, die Welt näher zu bringen, erinnert uns Julien Previeux mit ihrem Film Post-Post-Production an die Prozesse, die unsere Realität konstruieren. Die Masse an Informationen, die wir tagtäglich erhalten, ist zum großen Teil medial vermittelt. Wir beziehen unser Wissen über die Welt aus Fernsehen, Internet, Film und Fotografie. Der Prozess der Post-Post-Production offenbart die Manipulierbarkeit dieser Informationen und lässt uns an dem Gesehenen zweifeln. Daraus ergibt sich konsequenterweise ein Diskurs darüber, welche Ausstellungsformate zeitgenössische Kunst benötigt, damit sie in ihrer ganzen Komplexität rezipiert werden kann. Werden Skulpturen und Gemälde vor allem betrachtet, ist die Rezeption eines Filmes weitaus komplexer und benötigt in den meisten Fällen mehr Zeit und eine intensivere Beschäftigung mit dem Kunstwerk. Aus diesem Grund steht bei der abc das Werk des Künstlers im Vordergrund, nicht wie bei Messen sonst üblich die Galerien mit ihren zahlreichen Künstlern. Das Kunstwerk als Ganzes zu betrachten und nicht als einzelnes, aus dem Werk herausgelöstes Objekt, ist ein Anfang, um der Komplexität und Vielschichtigkeit der zeitgenössischen Kunst näher zu kommen. Die zeitgenössische Kunst benötigt diese Aufmerksamkeit und das Wissen über eine Bandbreite von Arbeiten, um verstanden zu werden. Das Ausstellungsformat der abc ist damit weitaus zukunftsweisender als die klassische Darstellungsform des Art Forums.

Antonia Märzhäuser

abc-art

“Ist das wirklich meine Stadt?” oder
“Kulturpolitik von und fÜr BÜrokraten”

Hamburg – einstmals und zukünftig von Cosma Shiva Hagen

Seit über zehn Jahren lebe ich in meiner sogenannten Wahlheimat Hamburg. Vielleicht sollte ich noch hinzufügen: “Und das ist auch gut so!”. Denn seit geraumer Zeit werde ich mit ungläubigen, verdutzten Gesichtern bestraft, wenn ich zu der Frage nach meinem Wohnsitz mit “Hamburg” antworte. Ich denke nicht, dass es daran liegt, dass die meisten Menschen Nina Hagen mit Berlin assoziieren, sondern daran, dass es den meisten Menschen schier unmöglich erscheint, als Schauspielerin und als Kunsthaus-Betreiberin in Hamburg zu überleben. Muss man als Künstler in Berlin angesiedelt sein?

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Die Presse überschlägt sich dieser Tage mit Meldungen über Künstler von Lindenberg bis Westernhagen, die dieser Stadt den Rücken kehren, weil der Reiz verloren gegangen ist und sie sich von der kreativen Szene Berlins angezogen fühlen. Dann liest man bahnbrechend intelligente Sätze wie “Hamburg darf im Wettbewerb um die besten Künstler und Events nicht den Anschluss verpassen”…! …? Nur, wer soll da helfen? Die Behörden? Bürokratisches Kulturschaffen geht meist in die falsche Richtung und oft am Publikum vorbei. Bedauerlicherweise hat noch niemand begriffen, dass es die Künstler, Musiker und Clubbesitzer sind, die die kulturelle Vielfalt einer Stadt gestalten und auch leben. Rücksichtsloser Umgang mit dem Nachtleben hat schon in anderen Städten dazu geführt, dass die Clubszene stirbt und es an geeigneten Venues mangelt.

Wenn man die Themen “Subkultur Hamburg” oder “Clubsterben Hamburg” bei Google eingibt, wird man von einer Welle der Entrüstung und Panik überflutet. Dieses alarmierende Thema scheint grenzenlos und ein leises Flüstern wird langsam aber sicher zu einem hysterischen Anfall. Diskussionsforen sprudeln über, wenn es um die Clubs am Verkehrsknotenpunkt oder inzwischen Kulturknotenpunkt Sternbrücke geht, die bis zum Ende des Jahres 2009 das Feld für geplante Renovierungen der Deutschen Bahn räumen müssen. Dass die Frist für dieses Vorhaben nun bis 2014 verlängert wurde, tut der allgemeinen Panik verständlicherweise keinen Abbruch, denn beispielsweise der Waagenbau hat eines der abwechslungsreichsten Programme für alle Nachtschwärmer von Live Events bis zu Hip Hop, Elektronik und mehr.

Das Ende des Waagenbaus und den umliegenden Clubs würde fast schon Münchener Verhältnissen gleichen… Das hört sich vielleicht übertrieben an, ist es aber keineswegs, wenn man bedenkt, dass die Staatsförderung der Elbphilharmonie von 70 Millionen auf 323 Millionen gestiegen ist und eine Plattform für eine Minderheit bietet. Ich will damit nicht sagen, dass die Elbphilharmonie überflüssig wäre! – Aber das Geld und vor allem die Energie, die investiert wird, beispielsweise in Akustiker, Architekten, Anwälte, Pläne und Gedanken, ist im Vergleich zu laufenden, um Hilfe ringenden Institutionen Hamburgs geradezu lächerlich. In Zeiten der Weltwirtschaftskrise wird gespart und an anderen Ecken wird geprasst. Die kleinen Clubs sterben, Arbeitsplätze gehen flöten, Existenzen werden ruiniert und es gibt keine vernünftige Förderung für Musik-, Club- und Kunstliebhaber im Alter von 20 bis 50 Jahren – also rund 70 Prozent der Gesellschaft.

In der Vergangenheit gab es keinen guten Club ohne Gerüchte über eine Schliessung, sei es beispielsweise wegen finanzieller Probleme wie im relativ kleinen Molotow, wo Bands wie Mando Diao, Billy Talent, The White Stripes und andere ihre ersten Hamburg-Konzerte vor kleinem Publikum hatten. Anderswo ist die Lautstärke problematisch oder es gibt Querelen mit den Behörden. Fakt ist: Jede Schliessung beschneidet und unterdrückt die kulturelle Vielfalt der Stadt. Es ist mir ein Rätsel, warum es von der Stadt keine Förderung für die lebenswillige eigenständige (Sub-)Kultur Hamburgs gibt und man sich gleichzeitig darüber wundert, dass viele Künstler, die hier leben, das Weite suchen, obwohl Hamburg als so weltoffen gilt. Möglicherweise bin ich bei diesem Thema ein wenig emotional aber ich glaube zu wissen, wovon ich spreche.

In einem Anflug von Idealismus und Naivität habe ich im Mai 2009 die “Sichtbar” eröffnet. Ich wollte im Rahmen einer Nachtclub-Galerie eine Plattform für Künstler aller Art schaffen und stellte mir das Ganze als eine endlose kreative Party vor. Schnell begriff ich, dass 80 Prozent der Arbeit das bürokratische Umkämpfen der eigenen Rechte darstellt. Andere Clubbesitzer sagten mir nur mit einem wissenden, müden Lächeln “Willkommen in der Gastronomie”.

Es ist fast unmöglich, mit Musikclubs Geld zu verdienen. Abzüglich der Personal- und Technikkosten, Abgaben an die Künstlersozialkasse oder die GEMA-Gebühren, Quellensteuer usw. bleibt letztendlich meist nichts übrig. Ich las in einem Interview mit Karsten Schölermann, der seit mehr als 30 Jahren das “Knust” betreibt und 2001 umziehen musste, um drei Jahre später im Schlachthof ein neues Domizil zu finden: “Musikclubs gibt es nur, weil es Selbstausbeutung gibt, wir werden einem Tarif zugeordnet, der für Tanzmusik in Hotelfoyers geschaffen wurde, machen aber keine Unterhaltung sondern Präsentation, bilden Nachwuchs aus, auch den der GEMA, und werden dafür bestraft.”

Es gibt kaum eine Verhältnismäßigkeit bei der Wahrung der Rechte der Anwohner vs. der Rechte der Kulturschaffenden und Genießenden, grosses Beispiel dafür ist die Geschichte von Leila Pantel, Bossanova-Sängerin aus Hamburg, die um 23 Uhr bei einem Live Konzert am Hamburger Berg wegen einer einzelnen Beschwerde von der Polizei gestoppt wurde… Und wir sprechen hier von leisen Bossanova-Tönen, nicht von einem Subwoover, 150 bpm und elektroakustische Verstärkung! Ich wage zu bezweifeln, dass die Geräuschkulisse am Hamburger Berg durch die Beendung des Konzerts in irgendeiner Weise geschmälert wurde. Im persönlichen Miet- und Wohnrecht sind 2 Stunden täglich für eine “laute” Beschäftigung – beispielsweise das Üben eines Instruments – erlaubt. Gastronomisch und gewerblich sieht es da leider anders aus. Eine einzige Beschwerdeperson kann den ganzen Saal stoppen.

Um ein anderes sehr gutes Beispiel für Behördlichenwahn ohne Sinn zu erklären, erzählt man sich in Hamburg gerne das Schanzenviertel-Märchen: “Es war einmal, vor sehr langer Zeit ein unentdecktes Land, wo alles schöne bald verschwand…”

Im März 2009 explodierten die Mietpreise im Schanzenviertel und alt eingesessene Bewohner und Ladenbetreiber mussten sich in Staub auflösen. Läden, die seit jeher dort angesiedelt waren, mussten sich von neuen Läden verdrängen lassen. Peter Haß, 63-jähriger Robin Hood der Schanze, der seit mehr als 30 Jahren dort lebt und als Mitglied des Bürgerzentrums “Centro Soziale” für den Erhalt des Viertels kämpft, sagte: “Wenn das so weiter geht, haben wir bald nur noch Schicki-Micki-Läden und -Ketten hier, die im Zentrum der Stadt schon mehrfach zu finden sind.”

Wenn man die Besonderheit eines Stadtteils ausdrücken will, würde man vielleicht auch den Ausdruck “das gewisse Etwas” benutzen. Entweder man hat es, oder man hat es nicht! Die Ausstrahlung kommt von innen! Geographisch gesehen kann man also sagen, dass das Innere des Schanzenviertels die Menschen sind, die dort leben, arbeiten und etwas kostbares erschaffen – man könnte auch sagen, sie erschaffen gemeinsam die Seele des Viertels.

Hamburg hat diese Seele an den Teufel verkauft. Seither erhofften sich nicht nennenswerte Firmen, dass sich durch ihre bloße Anwesenheit im “Schanzenhimmel” wenigstens ein bisschen dieser sogenannten Seele abfärbt. Aber das Gegenteil war der Fall! MANN KÖNNTE ES AUCH ALS IRONIE DES SCHICKSALS BEZEICHNEN, dass man sich tatsächlich darüber wundert, dass die vor Diebstahl schützende Glasscheibe vorm Laden keine 24 Stunden hält und der Nachbar nichts abbekommen hat. Erleichtert stellt man fest, dass “zum Glück nichts geklaut wurde” und ein Wink mit den Zaunpfeil wird zu einer Geschichte voller Missverständnissen… Denn niemand, der durchs Schanzenviertel läuft, braucht diese kommerziellen Läden. Die einzigen, die darunter leiden, sind die Ureinwohner die nun Gast im eigenen Land sind, oder Punks, die für alles schlechte verantwortlich gemacht werden, weil man der Meinung ist, dass “sonst niemand Interesse daran haben könnte, etwas zu beschädigen”.

Warum also lässt Hamburg das zu? Unwissenheit? Ignoranz? Habgier? Vielleicht eine Mischung aus all diesen Dingen. Der rettende Prinz heißt “Macciato-Stop” und soll im kommenden Jahr mit einer Schutzverordnung mehrere Szeneviertel vor dem Untergang bewahren. Mitte 2011 soll eine Verordnung in Kraft treten, die die angestammte Bevölkerungsstruktur auf St. Pauli, im Karoviertel, in St. Georg und dem Schanzenviertel vor Luxussanierung oder spekulativer Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen bewahrt.

Aber ich frage mich, seit wann Aschenputtel zum Dornröschen wurde und eine Stadt sich vor sich selbst schützen muss, weil sie verschlafen hat, welch individuelle Schönheit sie in Wahrheit besitzt.

Tourismus entsteht nicht im Reiseführer! Sondern beispielsweise in den größten Musikclubs oder auf der Strasse – durch Mund-zu-Mund-Propaganda, Stille Post. Menschen lernen sich kennen und fragen: “Was ist das Geheimnis deiner Stadt? Wo muss man hin, wenn man die ‘heiligen Hallen’ nicht verpassen möchte?” Geheimnisse sind vergänglich! Und trotz der vielbesagten nordischen Distanz und Kühlheit ist auch dieses Geheimnis öffentlich geworden und Behörden, Geld und Firmen haben versucht, ihren Teil zu sichern.

Ich würde mir von eingefleischten Hamburgern eine Art Revolution wünschen, um die Seele der Stadt zu erhalten, beispielsweise in Form von Beschwerde-Briefen an die Senatsbehörden: Einen Kampf anzetteln für die Förderung der vielfältigen kreativen gewachsenen Subkulturen und deren Rechte . Frei nach dem Motto: ” …they tried to make me go to rehab, but I said no no no…!”

Eine lebende Hamburger Legende namens Otto Waalkes gab mir vor einigen Jahren den Ritterschlag und machte mich zum deutschen Schneewittchen. Die Frage zur Schönsten im ganzen Land ist mir seitdem also nicht unbekannt. Meiner Meinung nach ist Hamburg die schönste Stadt Deutschlands und schon deswegen zu beneiden. Auch wenn es die reichste Stadt nach dem letzten Krieg war, kann man sich Style bekanntlich nicht kaufen. Die Internationalität durch den Hafen, die Menschen, die Mentalität und die Schönheit dieser Stadt machen Hamburg einzigartig.

Wenn sich weiterhin alles darum dreht, Stadtteile zu ändern weil keiner begreift, dass der Stadtteil von den Menschen und nicht von den Behörden gemacht wird, nimmt das eine sehr traurige Wendung.

Es ist mir unbegreiflich, das Institutionen, die von der Kultur einer Stadt leben wollen und es im Endeffekt auch tun, ihren Kultur (er)schaffenden Instanzen Steine in den Weg legen, statt sie zu unterstützen und die grundlegendste Wahrheit ihrer eigenen Arbeit nicht begreifen: Musikclubs sind keine kommerziellen Betriebe, es sind Kulturbetriebe! Und freie Kultur entsteht nur da, wo es keine Frage des Portemonnaies ist.

Die Moral der Geschichte lässt sich schnell zusammenfassen: Hamburg lässt sich nicht so einfach über den Tisch ziehen. Denn der wichtigste Faktor wurde beinahe vergessen: Das Herz, das mit jedem Schlag den Ton angibt!

Jan Delay sagte einmal: “Das ist meine Stadt, schön und abgefucked”. Ich würde noch hinzufügen: “So soll es sein, so kann es bleiben.”

Cosma Shiva Hagen

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WAHLKAMPF IM PLISSEEKLEID

Nur allzu gut erinnern wir uns an die Zeit als uns auf – in spätsommerliches verklärendes Licht gehüllten – Wahlplakaten die immer gleichen müden Gesichter ihr routiniertes Lächeln entgegen warfen. Während bei den Bundestagswahlen also alles nach Schema X verlief, hat sich im bunten Kreis der Misswahlen einiges getan. Gefängniskantinen ersetzen Beach-Resorts als Wettkampfstätten und statt nackter Haut gibt es flammende Manifeste. Wir hoffen auf ihre Vorbildfunktion.

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Was macht man im Jahr 2009 mit einem latent zum Pessimismus neigenden Volk, dessen Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen bereits zu Krisenkindern ernannt wurde? Diese Frage muss sich wohl Anfang des Jahres ein ganz bestimmter Berufsstand gestellt haben, worauf sich dann die nicht uneigennützige Beschäftigungstherapie „Wahljahr“ aus dem Hemdsärmel geschüttelt wurde.

Bis zu sechzehn Mal ließ sich das Thema dieses Jahr aufwärmen, zwischen den Gerichten wurde schön auf Sparflamme weiter geköchelt, damit wir ja nicht an etwas anderes denken würden. Das politische Wahljahr hatte die Aufgabe, uns den dunklen Weg zurück auf den Pfad der Tugend zu zeigen, runter von der mit Leuchtreklame gesäumten Autobahn der schnelllebigen Zerstreuungen.

Was aber wenn wir nun gar nicht hinunter wollen von dem bunt blinkenden Highway? Eine Verbindung aus Superwahljahr und Pop? Um diese zunächst konträr erscheinenden Begriffe Wahl und Vergnügen vereinen zu können, bedarf es einer intensiveren Untersuchung des Wahlbegriffs.

Wir wissen um die Geschichtsträchtigkeit der Bill of Rights von 1689. Ein Datum, dessen historische Relevanz –zu Unrecht – weitgehend in Vergessenheit geriet, ist der 19. September 1888, die Geburtsstunde des ersten europäischen Schönheitswettbewerbs.

Trotz dieser historischen Geburtsstunde im Herzen Europas, waren es unsere (damals noch „bored and beautiful“) Amerikaner, die den Misswahlentrend über den ganzen Globus katapultierten. Ende der 20er kam dann ein richtiger Exportschlager über den Teich. Ergänzend zur Weltwirtschaftskrise lieferten die Amerikaner uns gleich die Möglichkeit zum Eskapismus mit.

Schönheitswahlen sind wie kleine Enklaven einer glatteren und einfacheren Welt, sie folgen dem System der Komplexitätsverweigerung.

Uns scheint der Mikrokosmos bestehend aus Hair Extensions, Bademode und Weltfrieden genau so fremd zu sein wie die Passion der Engländer zu baked beens und hash browns. Ähnlich wie diese absolut abartige Frühstückstradition expandieren Schönheitswahlen um den ganzen Globus, nur dass sie meistens nichts mehr mit dem klassischen Verständnis eines Beauty Contests zu tun haben.

Die Misswahlen unserer Zeit beinhalten also weniger Weltfrieden und Extensions, als vielmehr Silikon und einen ärztlichen Geschlechtsnachweis.

Während wir nicht müde werden unsere Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Ehe zu betonen, haben die Thailänder einen ganz anderen Weg gefunden, sich der bunten Vielfalt der menschlichen Sexualität zu nähern. In keinem Land der Welt hat sich eine so große und öffentliche Transvestitenszene entwickelt. Ladyboys und Kathoeys scheuen nicht gerade die Öffentlichkeit und so war es nur eine Frage der Zeit, bis man ihr wirtschaftliches Potential entdeckte. Die Miss Tiffanys Universe Wahl in Pattaya ist längst zu einem Touristenmagnet geworden. Die Mitmachbedingungen entscheiden sich bis auf ein paar minimale Details nicht von denen konventioneller Schönheitswahlen. Die Kandidaten müssen der Spezies Transwoman angehören, also männlichen Geschlechts geboren, das Leben aber als Frau bestreitend, falls Geschlechtsveränderungen in Form von Operationen vorgenommen wurden, wird um eine Geburtsurkunde gebeten. Profilieren müssen sich die Teilnehmerinnen übrigens in den Kategorien „bestes Kostüm“, „Fotogenität“ und „unlimited sexy star“, na wenn das nicht mal eine willkommene Abwechslung zum roten Bikinishowlauf mit anschließender pseudosozialen Spontan- Fragestunde ist. Social Awareness ist der Transgender-Community natürlich eine Herzensangelegenheit und so soll der Contest die Toleranz gegenüber dem Geschlechts- und Liebespotpourri stärken.

Während sich die Japaner ja recht öffentlich zu ihren Fetischen bekennen und es nichts neues ist, dass sie in ihrer knappen Freizeit ganz gerne mal in Schulmädchenkostümen Karaoke singen, gelten die Chinesen da gemeinhin als etwas prüder, aber definitiv nicht als weniger einfallsreich. So krönen sie jedes Jahr die Miss Plastic Surgery. Die Anwärterinnen auf den Titel müssen nachweislich mindestens (!) eine Schönheitsoperation hinter sich gebracht haben, vielleicht sollte mal schnell jemand Frau Ohoven ein Flug buchen, dann hat die Gute endlich mal etwas richtig gemacht.

Wie reiner Mainstream wirken dagegen die bereits weit verbreiteten Schönheitswettbewerbe in den Frauengefängnissen dieser Welt. Von Brasilien über Litauen bis an den äußersten Rand Sibiriens, überall werden Overalls gegen enganliegende Synthetik getauscht. Auf den Oberarmen der Mädchen prangen Tattoos, die man sonst nur bei den Hells Angels vermuten würde. Umso faszinierender ist es, sieht man mit was für einem Ernst und Ehrgeiz die Wahlen vonstatten gehen. Angetreten wird in den Kategorien „Schreiben“, „Charme“ und „öffentliche Rede“. Für einen Moment sind die eisernen Gitterstäbe und kahlen Einzelzellen vergessen, dann werden aus Gefängniswärterinnen Stylisten und aus den sonst so bedrohlich am Gürtel von links nach rechts schwingenden Knüppel, der Schwung von schwarzer Mascara.

Wenn Schönheitswahlen als Publicity für Städte und Produkte funktionieren, gilt dann nicht auch das gleiche für Wohltätigkeitszwecke und die Politik? Ist die Gleichung so einfach? „Sex sells“, auch bei schwer verdaulichen Themen? Die Paradoxie der Misswahlen besteht darin, dass ihre Natur absolut apolitisch ist und sich gerade dadurch bestens als Projektionsfläche für verschiedenste Interessen anbietet.

Stürmten die Feministinnen in den 70er Jahren, ihren BH wie ein Lasso schwingend, Misswahlen und forderten ein Ende der weiblichen Fleischbeschauung und Objektivierung, werden heute Misswahlen für Frauenrechte initiiert.

Social Awareness heißt auch wieder mal das Zauberwort bei der Wahl zur Miss Landmine. Geschmacklos würde auch hier manch einer gerne rufen. Wie kann man den Inbegriff von Oberflächlichkeit und intellektueller Beschränktheit mit einem Thema in Verbindung bringen, das von so großer politischer Relevanz und Ernsthaftigkeit ist? Ist das nicht eine Zuschaustellung der Opfer, dessen Bilder in der Masse des westlichen Kulturangebots untergehen und maximal dem ein oder anderen Ausstellungsbesucher ein kurzen Seufzer entgleiten lassen?

Stellt man diese Fragen, muss man auch so ehrlich sein sich zu fragen, was nun besser ist, Aufmerksamkeit durch eine Miss-Wahl oder eben keine Aufmerksamkeit.

Das Motto „celebrate true beauty“, was im Kontext einer Dove-Kampagne nicht mehr als eine Ansammlung von leeren Worthülsen ergibt, bekommt hier eine wahrlich plastische Bedeutung. Zu deutlich und verstörend ist die Abweichung vom genormten Schönheitsideal. Der feministische Zeigefinger kann in diesem Falle getrost unten bleiben, es ist nämlich zu bezweifeln, dass ein noch so flammender Artikel in der Emma über weibliche Landminenopfer hier mehr bewirkt hätte.

Etwas schwieriger gestaltet sich da die Verbindung Politik und Schönheit. Nun gehört das Gespann etwas ergrauter Mitte-Fünfziger mit schöner Anfang-Zwanzigerin in mittlerweile allen politischen Lagern zum guten Ton, die Instrumentalisierung von Misswahlen zu Wahlzwecken ist trotzdem ein heikles Thema. So versorgte Väterchen Kohl 1998 die Klatsch-Presse mit allerlei Stoff, als er mit der aus Ost- Berlin stammenden Miss Germany 1991/92 auf Wählerfang im Osten ging. In der DDR waren Schönheitswettbewerbe „Zeichen der Erniedrigung und Ausbeutung der Frau durch den Kapitalismus“. Kurzum: eine Ausgeburt der Hölle. Während bei uns also Schönheit und Politik wieder getrennte – sehr getrennte – Wege gehen, entdeckt Russland diese Strategie neu für sich. Was in Deutschland wohl zu bürgerkriegsähnlichen Szenarien führen würde, fällt in Russland einfach unter die Kategorie cleveres Marketing. Bekanntermaßen sieht sich die Atomenergiebranche mit gewissen Vorurteilen konfrontiert. So wird ihr gerne jedes schwerere Übel, vom kalten Krieg bis hin zur Umweltvergiftung in die Schuhe geschoben. Und wenn Schalke verliert, dann ist natürlich Gazprom Schuld. Das möchte man natürlich nur ungern auf sich sitzen lassen und wie ließe sich die Sympathie der Branche besser steigern, als durch schöne Frauen. Wer in den letzten Jahren an der Cote ´d Azur oder in St. Moritz war, weiß, dass es davon in Russland sogar eine ganze Menge von gibt. Dass diese auch in der Atomenergiebranche tätig sind, veranlasste das Web-Portal nuclear.ru dazu die Miss Atom-Wahl ins Leben zu rufen.

Da sag noch einmal jemand, der russischen Seele würde es an Humor mangeln. Sind die strahlenden Gewinnerinnen vor der Reaktorkulisse erstmal abgelichtet worden, wirken Ironie und Patriotismus doch gar nicht mehr so weit voneinander entfernt.

Wer hätte 1979, als Rudi Carrell die erste Miss Germany Wahl im Fernsehen moderierte, gedacht, dass der Begriff „Misswahl“ so viel kreativen Spielraum lässt.

Jedem Topf seinen passenden Deckel, jedem Freak seine Miss-Wahl.

Antonia Märzhäuser

misswahl

KARNEVAL IN DER KRABBELGRUPPE

Von fabrikfrischen und verrosteten Nägeln im Fleisch der parlamentarischen Demokratie. Ein paar Gedanken zur Piratenpartei von Jan Off.

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Im Januar 2010 heißt es, sich beim Bioschlachter und im Naturkostladen auf leere Regale einzustellen, feiern doch in eben diesem Monat Die Grünen ihr dreißigjähriges Bestehen. Wenn man sich das vergleichsweise gesittete Äußere ihrer aktuellen Vertreter vor Augen hält, will an den wilden Stil-Mix, den die Partei während ihrer Entstehungsphase nach außen transportierte, so gut wie gar nichts mehr erinnern. Ein BEDAUERNSWERTER Umstand, denn was waren das doch immer für erquickende Bilder von all diesen Aufbau- und Gründungstreffen: der strickende Vollbart mit Fusselmähne neben dem hageren Pastor im lederflickenbewehrten Cord-Jackett; dahinter ein barfüßiger Wünschelrutengänger Seit an Seit mit dem weißhäuptigen Träger eines Lodenjankers, den die Liebe zu Natur UND Vaterland in die Arme der Umweltbewegung getrieben hatte. Entsprechend bunt war der Pool der politischen Ansichten, wobei konservative Einstellungen durchaus eine größere Rolle spielten, als das im Nachhinein zu vermuten wäre. Beispielhaft sei hier an Herbert Gruhl erinnert, der neun Jahre lang für die CDU im Bundestag saß, bevor er sich für die Europawahl 1979 gemeinsam mit Petra Kelly als Spitzenkandidat des Grünen-Vorläufers Sonstige Politische Vereinigungen Die Grünen aufstellen ließ. Von seinen inner- wie außerparteilichen Gegnern regelmäßig als „Ökofaschist“ gebrandmarkt, verließ Gruhl Die Grünen alsbald wieder, um im Jahre des Herrn 1982 die ÖDP mitzubegründen, die dann unter seiner Führung auch gleich mal einen eher bedenklichen Kurs einschlug.

Derart krude Figuren geistern bei den ehemaligen Ökopaxen heute höchstens noch auf kommunaler Ebene herum. Aber für wunderliches, insbesondere rechtes Gelichter findet sich immer ein Reservat, in dem es für seine bizarren Gedankengebäude mehr als ein Paar offene Ohren findet. Im Moment ist das ganz unzweifelhaft die Piratenpartei, deren Mitgliedszahlen nach dem Entschluss, zum ersten Mal an einer Bundestagswahl teilzunehmen, rapide in die Höhe geschnellt sind. Naturgemäß zieht ein politischer Zusammenschluss, der seine erste Aufgabe in der Verteidigung digitaler Bürgerrechte sieht, neben den üblichen Computer-Nerds auch allerlei Verschwörungstheoretiker und sonstige Paranoiker an. Dass vor kurzem mit Bodo Thiesen allerdings eine Figur, die den Holocaust relativiert und Deutschlands Urheberschaft am 2. Weltkrieg leugnet, sogar ein Parteiamt abgreifen konnte, wenn auch ein vergleichsweise unbedeutendes, erinnert dann doch wieder an die Anfänge der Grünen, also an den fehlenden Überblick angesichts der schieren Masse enthusiastischer Aktivisten, beziehungsweise an das Fehlen klarer Richtlinien, wohin das Pendel denn nun genau ausschlagen möge.

Mittlerweile ist Bodo Thiesen seines Amtes als Ersatzmitglied des Bundesschiedsgerichts nicht nur wieder enthoben, ihm droht zusätzlich ein Ausschlussverfahren. Und so bleibt zu hoffen, dass die Partei, der er – Inschallah – bald nicht mehr angehören wird, sich in Zukunft endlich dem widmet, was ihr Name verspricht: Nämlich Lobbyarbeit für diejenigen, die sich ihren Teil vom Kuchen unter Zuhilfenahme von Schnellbooten und Schusswaffen abholen – für die somalischen Piraten also.

Nicht, dass mich hier jemand falsch versteht: Ich bin weder ein Freund von Freiheitsberaubung und Scheinhinrichtungen, noch möchte ich das Leid der entführten Besatzungen in Abrede stellen. Aber im Kino einen Säbelschwingenden Johnny Depp abzufeiern oder den eigenen Nachwuchs mit modischen Totenkopf-Emblemen auszustaffieren, um dann hernach die real existierende Seeräuberei als eine Ausgeburt des abgrundtief Bösen zu betrachten, während große Teile eines kompletten Kontinents in Agonie versinken, stellt eine Bigotterie dar, die nur schwer zu ertragen ist. Wenn also irgendwann die ersten gefangenen Piraten von der Fregatte Bremen in den Hamburger Hafen gebracht werden, dann will ich wenigstens die Mitglieder der Piratenpartei an den Landungsbrücken sehen. Natürlich mit Entermessern zwischen den Zähnen – und sei es nur dem Gebot der sportlichen Fairness zuliebe.

Jan Off

pirat_horst

The Next Generation: Kalle Sauerland

In Zeiten kollektiven Fremdschämens, wirtschaftlicher Unsicherheit und der an Körperverletzung grenzender Casting-, Running- oder Talentshows und den Doping- und Drogen durchweichten und zersetzten Sportevents wie Tour De France, Eisschnelllaufen und Triathlon, ist der Boxsport ein ehrliches und spektakuläres Element menschlicher Aggressions- und Sensationslust, auch wenn der geneigte Zuschauer und Boxfan die Machenschaften der verschiedensten Verbände, Promoter und Fernsehanstalten nicht unbedingt verstehen und durchschauen kann.

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Der junge, gutaussehende und boxbegeisterte Mann auf dem Foto ist nicht ganz unbeteiligt daran, dass es im Boxen, zumindest im Supermittelgewicht, mal wieder ein wenig transparenter werden könnte. Sein Name ist Kalle Sauerland, er ist 32 Jahre alt und er verkörpert vielleicht die neue Generation der Boxmanager- und Promoter.

Natürlich kommt die Begeisterung und die Verpflichtung für den Boxsport nicht von ungefähr. Kalles Vater Wilfried machte in den 90er Jahren den Boxsport in Deutschland wieder gesellschaftsfähig. Henry Maske hieß der Boxer, der eine wahre Renaissance des Boxsports einleitete und den Grundstein dafür legte, dass Winfried Sauerland heute zu den erfolgreichsten Boxpromotern in der Welt gehört. Zu seinem Stall gehörten unter anderem Boxer wie Sven Ottke, Axel Schulz und Markus Beyer. Heute hängen die Hoffnungen an Arthur Abraham, Marco Huck, Nikolai Walujew und Sebastian Sylvester. Zuletzt, im Hinblick auf das im Herbst startende Super-Six-Turnier im Supermittelgewicht, konnte Sauerland zudem seine Chance auf den Titel verdoppeln, da man den aktuell wahrscheinlich stärksten Boxer dieser Gewichtsklasse, den Dänen Mikkel Kessler, verpflichten konnte. Nur das Schwergewicht macht ein wenig Sorgen, auch wenn Kalle Sauerland sagt: „Da kommen in den nächsten Jahren junge, deutsche Boxer, die das Zeug haben, Weltmeister zu werden.“ Die deutschen Boxfans hätten nichts dagegen, auch wenn man es gelernt hat, den Boxer nicht aufgrund seiner nationalen Herkunft zu bestaunen, sondern aufgrund seiner Fähigkeiten wie Mut, Kraft, Technik und Ausstrahlung. Natürlich darf ein gesunder Geschäftssinn nicht fehlen, doch das allein macht noch keine großen Champions aus und gerade im Schwergewicht fehlen diese Champions. Auch bei den Klitschkos ist man nicht alleine, wenn man in so mancher Kampfsituation das Gefühlt hat, Angst in ihren Augen entdecken zu können. Kalle Sauerland spricht da offene Worte: „Vladimir Klitschko hat ein Glaskinn. Das wurde bereits dreimal bewiesen.“

Kalle Sauerland könnte die Erfolgsgeschichte seines Vaters weiterführen, beziehungsweise, wenn man es genau betrachtet, steckt er bereits mittendrin. Schon früh erkannte er sein Talent und sein Interesse für den Sport und entdeckte seine Liebe für den englischen Fußball. Seine Augen glänzen. Er ist offensichtlich ein Fan. Auch wenn er sich nicht so richtig entscheiden kann, wie er sich verorten würde: als Deutscher oder als Engländer. In Wuppertal geboren, genoss er Schulzeit und Ausbildung in England und absolvierte ein Praktikum beim Sportmarketing-Branchenführer IMG. Auch das kam nicht von ungefähr, so war doch die Lektüre des Buches „What They Don‘t Teach You at Harvard Business School: Notes From a Street-Smart Executive“ von IMG-Gründer Mark H. McCormack, von dem man sagt, er habe das Geschäft mit dem Vermarkten von Sportlern und Sportereignissen erfunden, der Moment, in dem Kalle Sauerland beschloss, sich diesem Thema anzunehmen. Mittlerweile ist Kalle Sauerland Managing Director der Kentaro Group, die unter anderem die Rechte an Arsenal, Chelsea, Manchester City, der argentinischen und der brasilianischen Nationalmannschaft vermarktet. Zuletzt wurde ein Büro in Hamburg eröffnet.

Doch neben dem Fußball engagiert sich Kalle Sauerland in den letzten Jahren mehr und mehr im väterlichen Betrieb, der Sauerland Event GmbH, an der er mittlerweile auch mit 50 Prozent beteiligt ist. Sein bisher größter Clou ist sicherlich das jetzt anstehende Super-Six-Turnier, was er gemeinsam mit anderen Branchenriesen initiierte. So konnten die vermeintlich sechs besten Boxer im Supermittelgewicht verpflichtet werden, um über einen Zeitraum von einem Jahr den besten ihrer Zunft zu ermitteln. Mit dabei sind neben den Sauerland-Boxern Mikkel Kessler und Arthur Abraham auch Andre Dirrel, Jermain Taylor, Carl Froch und Andre Ward. Zusammen weisen die sechs Boxer eine Bilanz von 144 Siegen zu vier Niederlagen und einem Unentschieden auf. Das garantiert Qualität und Motivation. Auch wenn natürlich das zu verdienende Geld nicht im Hintergrund steht. Dass da nicht alle Verbände mitziehen, war vorauszusehen, doch ein erster Schritt ist getan, das Profiboxen für den Fan attraktiver und transparenter zu gestalten. Im Oktober geht es los, dann kämpfen Abraham und Taylor, voraussichtlich in der Berliner O2-Arena, um die ersten Punkte, denn über ein Punktesystem und ein Halbfinale sollen die zwei Boxer ermittelt werden, die zum Schluss um die Krone im Supermittelgewicht boxen. Kalle Sauerland wird dann mit Sicherheit am Ring sitzen und mitfiebern.

Johannes Finke

Kalle-Sauerland

ST. PAULI ABSCHALTEN!
FUSSBALL NACH ENTENHAUSEN AUSLAGERN!

Zum Start der neuen Bundesliga-Saison hat sich unser Autor Jan Off mal ein paar sehr persönliche Gedanken zum Thema Fußballfans, Fanatiker und Vollidioten gemacht.

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Gerade habe ich mir eine englische Punkband angesehen, die ich längst im Siechenhaus vermutet hatte. Nun sitze ich in der letzten U-Bahn und lasse die beeindruckende Fitness der greisen Musikanten noch einmal Revue passieren. Ich habe ein paar Anstandsbiere intus und darf sicher einen leichten Schwips mein Eigen nennen, aber ich bin weder aggressiv noch sonst wie auf Kontakt zu meiner Umwelt aus. Ich will einfach nur entspannt nach Hause geschaukelt werden, um dort noch ein, zwei Runden Online-Poker zu spielen und dieser Kiste Holsten Edel zuleibe zu rücken, die im Flur auf mich wartet.

So weit, so gottgefällig, bis an der Haltestelle Feldstraße plötzlich eine Gestalt in meinen Waggon steigt, die meine kontemplative Stimmung schlagartig Geschichte werden lässt. Auf den ersten Blick mag es sich bei dem bieder gekleideten Jüngling mit der schmächtigen Statur um einen harmlosen Zeitgenossen handeln, vielleicht um einen Studenten der Geisteswissenschaften. Aber nachdem er mir schräg gegenüber Platz genommen hat, verrät mir genaueres Hinsehen, dass ich es hier mit einem brandgefährlichen Eiferer zu tun habe. Der Bengel trägt doch allen Ernstes eine Wollmütze mit Hannover-96-Emblem. In Hamburg! An einem spielfreien Wochentag… Lupenreiner Hass flutet meinen Gefühlshaushalt. Und mit einem Mal macht sich auch der genossene Alkohol bemerkbar: Eine derartige Provokation kann ich unmöglich dulden! Ich muss die Mütze in meinen Besitz bringen und gleich hier in der U-Bahn zu Konfetti verarbeiten, besser noch: sie in Brand setzen und die Flammen anschließend mit einem Schwall meines Mageninhalts löschen.

Warum ich das tun muss? Ganz einfach: Ich bin in Braunschweig aufgewachsen. Und wie die meisten, deren Herz für den Braunschweiger Turn- und Sportverein schlägt, hat man mich Zeit meines Lebens gelehrt, alles, was auch nur ansatzweise mit der Zahl 96 zusammenhängt, abgrundtief zu verachten – so wie sie in der Leine-Metropole beigebracht bekommen, die Farbkombination Blau und Gelb für den Auswurf des Bösen zu halten. Woher diese gegenseitige Abscheu rührt, hat mir bisher niemand erklären können. Sämtliche Recherchen in Braunschweiger Fankreisen ergaben durchgängig simple Antworten, die mir empfahlen, in dieser Sache bloß nicht weiter nachzufragen. Hannover, oder Hanoi, wie sie in Braunschweig sagen, sei nun mal die Seuchenstadt schlechthin und gehöre am besten niedergebrannt. Punkt! Soll heißen: Die Feindschaft wird als genauso gottgegeben hingenommen wie die zwischen den Anhängern von Frankfurt und Offenbach, Dresden und Leipzig oder Karlsruhe und Stuttgart (um nur ein paar der bundesweit bekanntesten Fehden zu nennen), wobei sich das Ausleben des Hasses nicht nur auf Ereignisse, Orte oder Menschen beschränkt, die tatsächlich einen Bezug zum Fußball aufweisen.

Ein Freund aus alten Tagen, der irgendwann beruflich in Hannover zu tun hatte, bekam schon in der ersten Woche nach Arbeitsantritt den Motorroller mit Scheiß-BTSV- und Es-lebe-96-Parolen zerkratzt. Als er dann später in die Landeshauptstadt umgesiedelt war und sich entsprechende Nummernschilder für den unterdessen angeschafften PKW besorgt hatte, wurde demselben während eines Braunschweigbesuchs wiederum die Luft aus den Reifen gelassen.

Selbst der Umstand, dass die beiden Mannschaften aufgrund ihrer unterschiedlichen Ligenzugehörigkeit schon seit Jahren kein offizielles Spiel mehr gegeneinander bestritten haben, hat den gelebten Irrsinn bisher nicht minimieren können. Wie auch?! Wer in dem konsequenten Wahn dahinvegetiert, die Anhängerschaft eines anderen Vereins besäße den Status krankmachenden Ungeziefers, findet natürlich immer Gelegenheiten, diesem Imitat einer Weltanschauung tatkräftig Ausdruck zu verleihen.

So geht zum Beispiel ein Überfall auf die Hannoveraner Fankneipe Nordkurve im Februar 2009 mit hoher Wahrscheinlichkeit aufs Braunschweiger Konto. Circa 20 bis 30 Vermummte stürmen unter Schlägen und Tritten den Gastraum, in dem gerade die Auswärtspartie Gladbach – Hannover übertragen wird, bewerfen die Anwesenden – darunter nicht wenige Familien – mit Flaschen und Gläsern, treten Tische um und schleudern Stühle durch den Raum. Die Mitglieder einer zahlenmäßig vergleichbaren Gruppe Jugendlicher, die kurz darauf in Tatortnähe von der Polizei kontrolliert wird, kommen zum größten Teil aus…? Richtig: aus Braunschweig, dem sympathischen Joker an der Oker (Eigenwerbung)! Angeblich wollten sie sich ein Hockeyspiel ansehen.

So weit, so pubertär. Dass aber auch vermeintlich denkende Mitbürger gegen den volksgemeinschaftlichen Abwehrreflex nicht gefeit sind, den die Verteidigung der „eigenen“ Vereinsfarben nun einmal darstellt, zeigt sich nur einen Monat später anlässlich des in Hamburg ausgetragenen Spiels St. Pauli – Rostock. Während in den gängigen Internetforen selbst „linke“ Hansa-Fans ankündigen, dem in seiner Gesamtheit ja ebenfalls als links geltenden St.-Pauli-Anhang ordentlich auf die Fresse geben zu wollen, werden rund ums Millerntor zahlreiche Hauswände mit Slogans à la 06.03. – alle gegen HRO! besprüht.

Obwohl auf Rostocker Seite dazu aufgefordert worden war, im Notfall auch ohne Eintrittskarte nach Hamburg zu fahren, bleibt das von vielen erwartete Schreckensszenario von der 3000-köpfigen Horde, die während des Spiels marodierend über die Reeperbahn zieht, zwar aus; aber auch so gibt es, insbesondere nach Ende der Partie, ausreichend Momente, in denen sich die geschürte Aggression Bahn bricht. Der dabei an den Tag gelegte Wille, der Gegenseite körperliche Schäden zuzufügen, macht es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, hier würden zwei verfeindete Religionsgemeinschaften aufeinander treffen. Erst werden die abziehenden Hansafans mit einem Hagel aus Flaschen und Pyrotechnik eingedeckt, der nur den Schluss zulässt, die Angreifer könnten mit hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, es bei jedem ihrer Gegner mit einem ausgewiesenen Nazi-Hool zu tun zu haben. Danach wird sich mit den Sicherheitsorganen eine Straßenschlacht geliefert, die zwar bei weitem nicht an die Auseinandersetzungen vom 01. Mai des letzten Jahres in Barmbek heranreicht, aber dennoch alles übersteigt, was ich danach in Hamburg erleben durfte. Und das ausschließlich im Namen eines Fußballvereins!

Warum ich an dieser Stelle nicht auf das unsägliche Verhalten der Rostocker eingehe, insbesondere auf die von dieser Seite aus gestarteten Übergriffe während des Hinspiels? Einfach deshalb, weil der FC St. Pauli gemeinhin als Verein gilt, dem sich überdurchschnittlich viele Menschen mit einer, nennen wir es mal: „diffus progressiven“ Lebenseinstellung verbunden fühlen. Damit stellt der Klub in Sachen Fankultur zweifellos die Spitze eines dampfenden Misthaufens dar, der sich wie folgt auf den Punkt bringen lässt: Da wo vor Jahren im Normalfall ein politisches Bewusstsein vorhanden war, wabert heute oft nur noch ein Fußballfähnchen durchs ansonsten luftleere Hirn. Selbst Peter Hein, seines Zeichens Sänger der einstmals als textlich gehaltvoll gehandelten Band Fehlfarben, fällt auf die Frage, ob es nicht irgendwas gäbe, auf das er positiv Bezug nehmen könne, nichts weiter ein als: „Äh, ja … der FC ’ne.“ (Wobei es nun wahrlich egal ist, um welchen FC es sich hier überhaupt handelt.)

Nichts gegen den Sport als solchen. Und auch nichts gegen das leidenschaftliche Mitfiebern mit dieser oder jener Mannschaft. Wer aber meint, es sei schon eine relevante Meinungsäußerung, im beispielsweise schwarzen Kapuzenjöppchen mit Totenkopf-Aufdruck durch die Gegend zu traben, der geht vielleicht besser mal Sandburgen bauen. Und wer sich – gemeinsam mit seinen Fanclub-Kameraden – lieber an imaginären Feinden abarbeitet, als die gesellschaftlichen Widersprüche auf die Straße zu tragen, der kann ja genau diese Sandburgen dann mit seinem Schäufelchen vor den anderen Kindern oder streunenden Hunden beschützen.

Diesem Gedankengang folgend, entschließe ich mich, einmal das Neue zu wagen, und biete dem 96er vor mir eins meiner beiden mitgeführten Fahrtbiere an. Und siehe da, er nimmt es nicht nur an, sondern erweist sich auch sonst als durch und durch sympathischer Zeitgenosse. Dass wir uns dann später wegen des in der U-Bahn geltenden Rauchverbots in die Haare kriegen, ist eine andere Geschichte.

Jan Off

St_Pauli

Kein Sommerthema:
Das Gefühl, die Zelle fährt

Die RAF ist längst nur noch Mythos und beliebiges Beispiel- und Beweismaterial und die Protagonisten sind verschollen, gebrochen oder Pop-Inventar. Trotzdem bleiben Fragen, retten sich Wichtigkeiten in andere Zeiten. Ein paar Gedanken zum Thema Isolationshaft von unserem Autor Jan Off.

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“Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf. Das Gefühl, die Schädeldecke müsste eigentlich zerreißen, abplatzen. Das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepresst. Das Gefühl, die Zelle fährt.“ Diese Sätze stellen sicherlich das in Deutschland bekannteste Zitat zur so genannten Isolationshaft aus der Sicht eines Häftlings dar. Sie entstammen einem Brief Ulrike Meinhofs aus ihrer Zelle in Köln-Ossendorf.

Isolationshaft bezeichnet eine Form der Inhaftierung, die den Gefangenen weitestgehend von menschlicher Kommunikation abschneidet. Das beginnt bei der Unterbringung in einer Einzelzelle und dem Verbot der Teilnahme an den gefängnisüblichen Gemeinschaftsveranstaltungen, setzt sich über Einschränkungen im Briefverkehr und im Besuchsrechts fort und endet schließlich bei der Verhinderung der Sicht nach draußen und der Abschottung gegen Außengeräusche. Mit dieser sozialen Isolation gehen häufig Maßnahmen einher, die eine Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmung zur Folge haben: beispielsweise Tag und Nacht brennendes Neonlicht, vollständig weiße Wände und eine entsprechend reizarme Inneneinrichtung, luftdichte Zellentüren. Dieses, sensorische Deprivation genannte Verfahren kann, so es über einen längeren Zeitraum zur Anwendung gelangt, zu vielfältigen Störungen im Denkablauf führen; die Palette reicht hier von Konzentrationsschwächen und Desorientierung bis hin zu Halluzinationen und Depressionserkrankungen. In Verbindung mit dem Entzug sozialer Kontakte ergibt das eine Mischung, die nicht selten körperliche Schäden nach sich zieht.

Wer nun darauf schließt, die vordergründige Absicht der „weißen Folter“, wie die eben beschriebenen Methoden von ihren Gegnern auch genannt werden, sei die physische Auslöschung von Häftlingen, irrt. In erster Linie geht es darum, den Gefangenen zu Geständnissen und einem vollständigen Abschwören seiner missliebigen Überzeugungen zu bewegen. Manchmal mag auch einfach nur übersteigertes Sicherheitsdenken hinter den Maßnahmen stecken. Stets werden bei ihrer Anwendung jedoch gesundheitliche Risiken in Kauf genommen, die im schlimmsten Fall lebensbedrohlichen Charakter annehmen können.

Dass psychische Stressfaktoren ebenso traumatisierend zu wirken vermögen wie körperliche Qualen, zeigt eine Untersuchung der University of London aus dem Jahr 2007. Befragt wurden knapp 280 Folteropfer aus den Kriegen des ehemaligen Jugoslawien, die eine lange Liste unterschiedlichster Foltermethoden mit einem Punktesystem zu bewerten hatten. Isolation war dabei eine der Maßnahmen, die als am stärksten belastend empfunden wurden. Sie erhielt im Durchschnitt 3,5 Punkte auf einer Skala von 0 – 4 (wobei die 4 für äußerst belastend stand). Damit wurde sie ebenso hoch bewertet wie beispielsweise die Körperstreckung oder das Aufhängen an Händen und Füßen.

Wirft man einen Blick auf die Geschichte des Gefängniswesens, stellt das mittelalterliche Einkerkern sicher die Frühform der Isolationshaft dar. Einen ersten theoretischen Background lieferten dann die um das Jahr 1820 herum in Amerika entstehenden Bußhäuser. Von Quäkern und Freidenkern als Alternative zur körperlichen Bestrafung befürwortet, wurde jeglicher Kontakt zwischen den dort Einsitzenden verhindert. Besuche erhielten sie ausschließlich von Geistlichen, die einzige Lektüre stellte die Bibel dar.

Erfahrungen mit kollaborierenden US-Soldaten während des Koreakriegs in den 1950 Jahren ließen in den westlichen Ländern den Verdacht aufkeimen, dass die Gegenseite Instrumentarien zur Gehirnwäsche besäße. Daraufhin setzte in den Vereinigten Staaten, später dann auch in Europa, eine massive Forschung zum Thema Isolation ein. Hierbei wurden neben der speziellen Situation von U-Bootbesatzungen und der von Astronauten auch die Folgen von Einschränkungen im Bereich der Sinneswahrnehmungen auf Einzelpersonen untersucht.

Inwieweit Ergebnisse dieser Forschungen später in die Strafvollzugssysteme der jeweiligen Länder Einzug hielten, ist bis heute strittig. Unstrittig ist, dass Isolationshaft und sensorische Deprivation nicht nur in totalitären Systemen zum Tragen kommen. Bekanntestes Beispiel hiefür ist sicher das US-Gefangenenlager Camp X-Ray in Guantanamo. Dunkle Brillen, die den Sichtkontakt verhindern, dicke Handschuhe, die den Tastsinn lahmlegen, ein Hörschutz für die Ohren – der Verdacht, dass hier mit Techniken der Sinnesvorenthaltungen gearbeitet wurde, lässt sich nur schwer von der Hand weisen. Aber auch in anderen demokratischen Ländern finden sich mehr oder minder starke Ansätze von Isolationshaft. Beispielhaft seien hier die Türkei und Spanien genannt, denen von der Gesellschaft für bedrohte Völker und Amnesty International wiederholt vorgeworfen wurde, Menschen ohne ausreichenden Kontakt zur Außenwelt in Haft zu halten.

Wer sich mit dem Thema in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland auseinandersetzt, stößt unweigerlich auf die Rote Armee Fraktion und ähnliche Organisationen, deren Mitglieder, so sie denn in Gefangenschaft gerieten, gleich einer ganzen Reihe von Sonderhaftbedingungen unterworfen waren. Nun liegt es in der Natur einer Gruppierung wie der RAF, eben diese Haftbedingungen propagandistisch auszunutzen, und so war schnell nicht nur von „Isolationsfolter“ sondern auch von „Vernichtungshaft“ die Rede. Wenn allerdings Verantwortliche für die damalige Situation der Inhaftierten, wie der ehemalige Justizminister Vogel heute davon sprechen, dass es Isolationshaft im Zusammenhang mit der RAF nie gegeben hätte, scheint auch diese Aussage nicht minder weit von der Realität entfernt. Zumindest den RAF-Mitgliedern Astrid Proll und Ulrike Meinhof müssen entsprechende Erfahrungen attestiert werden. Beide saßen in den Jahren 1971 – 73 nacheinander im so genannten „Toten Trakt“ der Vollzugsanstalt Köln-Ossendorf, die eine sechs, die andere neun Monate. Toter Trakt deshalb, da alle anderen Zellen des vom Hauptgebäude abgetrennten Hauses leer standen. Die Zelle selbst war komplett weiß gestrichen und verfügte über ein Fenster, das sich erst gar nicht, später nur einen Spaltbreit öffnen ließ. Das Neonlicht brannte rund um die Uhr. Als Astrid Proll, die im Juni 72 zwischenzeitlich in den Männertrakt der Anstalt verlegt worden war, beim Prozess gegen Horst Mahler aussagen sollte, wurde sie aus gesundheitlichen Gründen für verhandlungsunfähig erklärt, später dann wegen Haftunfähigkeit vorerst entlassen.

Nach der faktischen Auflösung der RAF und dem Ende der zum Teil mit äußerster Heftigkeit geführten Debatten um die Haftbedingungen der ersten und zweiten Generation ihrer Kader, scheint das Thema aus der öffentlichen Wahrnehmung weitestgehend verschwunden. Dabei spielt Isolation, wenn auch sicher nicht in der damaligen Ausprägung, nach wie vor eine Rolle im hiesigen Vollzugssystem. Nach einer Inspektionsreise durch verschiedene deutsche Haftanstalten im April 1996 kam das Anti-Folter-Komitee des Europarates zu dem Schluss, dass die bis zu mehreren Jahren dauernde Isolierung von Häftlingen „unter bestimmten Umständen“ eine „inhumane und entwürdigende Behandlung“ darstelle. Insbesondere in einem Gefängnis in Mecklenburg-Vorpommern würde die Isolationshaft nicht aus Sicherheitsgründen verhängt, sondern als Strafe. Neun Jahre später erhob dasselbe Komitee schwere Vorwürfe gegen die Untersuchungshaftanstalt Hamburg. Die dort einsitzenden Abschiebhäftlinge würden zu zweit oder allein 23 Stunden am Tag weggeschlossen, ohne dabei über Fernseher oder Lektüre zu verfügen. Im Jahr 2008 beklagte das Komitee für Bürgerrechte und Demokratie, dass auch viele andere Gefangene 23 Stunden am Tag vor sich hindämmern würden. Nebenher wurde die faktische Rechtlosigkeit der Häftlinge thematisiert. Selbst wenn die Insassen bessere Haftbedingungen einklagten, gäbe es „keine Möglichkeit, die Gerichtsbeschlüsse zum Beispiel mit Zwangsgeldern durchzusetzen.“ Dieses Mittel sei vom Gesetzgeber einfach nicht vorgesehen. Auch im Hier und Jetzt gilt also: Die Würde des Menschen ist antastbar.

Jan Off

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