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Er ist wieder da. Und das mit den Juden bleibt nicht witzig.

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Es war irgendwie klar, dass irgendeiner so ein Buch schreiben wird. Der Führer und die Gegenwart. Was ein Szenario. Wie nahe liegend. Der Führer im hippen Berlin von Heute, zwischen Medienwahnsinn, politischer Groteske und den einfachen Menschen, den Volksgenossen und Genossinnen, die ihm zuerst einmal mit Argwohn, Verwirrung („Sind sie von Raab?“) und Empörung begegnen (wer will es ihnen verdenken), ihn aber schnell zum Comedystar hochjubeln (wer will es ihnen verdenken).

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Warum Hitler im Berlin des Jahres 2011 nach Benzin riechend und mit Erde am Beinkleid erwacht, warum er nicht einfach tot geblieben ist und warum dies eine Art Einzelschicksal („Wo ist Bormann?“) zu scheint, überlässt der Autor gekonnt des Lesers eigener Erklärungsnot. Hier wird nicht groß konstruiert, hier wird erzählt. Und das ist erst einmal ganz gut. Die ersten Lacher lassen demzufolge nicht lange auf sich warten („Hitlerjunge Ronaldo, wo gehts zur Straße?“) und Autor  Timur Vermes lässt keine Kalauer und Seitenhiebe aus, um die Bundesrepublik der Gegenwart als einen Ort zu beschreiben, in dem es von grotesken Berühmtheiten, unfähigen Politikern, und unzufriedenen Volksgenossen nur so wimmelt. Jeder bekommt sein Fett weg, egal ob Kriegshelden wie Paulus, Ministerpraktikanten wie die Luschen von der FDP, Fernsehfritzen und Medienheinis, Kretins und Asiaten und natürlich alle Feinde des deutschen Volkes bzw. der deutschen Rasse, die Juden, die Türken, die Bolschewiken und all die anderen. Und der Judenfuchs auch. Und die die Geschicke der Nation lenkende Matrone.

Natürlich ist es ganz groß, wenn sich der Führer in der heruntergekommenen Parteizentrale der NPD den völlig derangierten Holger Apfel vorknöpft und hinterher der versammelten Presse erklärt, dass dies keine Partei sei, in der ein aufrechter Deutscher Mitglied sein sollte. Oder wie er, respektlos wie der selbst-erklärte größte Feldherr und Führer nun mal sein darf, das deutsche Moral-Orakel Helmut Schmidt als rollenden Schwelbrand ohne jegliche historisch-relevanten Leistungen entlarvt bzw. diffamiert (suchen sie sich es aus) und die auf gegenseitige Beschäftigung und Vernichtung von Juden und Moslems angelegte Gründung des Staates Israels als taktisch nicht unkluges Machwerk bejubelt, das alles ist in seiner Deftigkeit humorig, gar witzig. Und mit Sicherheit trifft „Er ist wieder da“ auch den sarrazenischen Zeitgeist der gesellschaftlichen Grauzone, nur wird es da leider zuweilen nun einmal kritisch, denn „das mit den Juden ist nicht witzig“, wie der Führer selbst des öfteren anmerkt und wie in aktuellen Diskuren wie dem um jJkob Augstein auch immer wieder deutlich wird. Natürlich ist dieses Buch schändlicher als alle Sarrazins, Pastörs, Freiwild-Fans und Mitglieder des nationalem Kampfverbandes sächsische Schweiz zusammen, doch das ist vielleicht ganz gut so: Fortschritt lebt von Übertreibung.

Gegen Ende geht Vermes dann leider die Luft aus. Lieblos entlässt er den Führer in die Mitte der Gesellschaft. Erst wird er Comedystar und dann, nachdem zwei real-extierende Volksgenossen aus der braunen Szene ihn übelst zusammenschlagen, zur Gallionsfigur gegen rechte Gewalt und Rechtsradikalismus. Das entbehrt natürlich nicht einer gewissen Komik, doch Vermes verpasst hier auch die Chance, den historischen Fakten in ihrer Grausamkeit gerecht zu werden. Gerecht ist das Buch jedoch was die Preisgestaltung angeht, denn 19,33 € deuten darauf hin, dass hier genau kalkuliert wurde. Vielleicht wie beim ganzen Buch.

„Ich bin wieder da“, Timur Vermes, Eichborn Verlag, 19,33 €
Elmar Bracht

Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen

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So oder ähnlich könnte die Besprechung von „Wind“ lauten, wäre man verbittert, ein Kritiker und außerdem nicht willens, weiter als bis zum Beginn der retrospektiven Versuchsanordnung zu lesen, als die man dieses jüngst bei Heyne erschienenen gut 400 Seiten begreifen kann:

„Machen wir uns nichts vor: „Wind“, der achte Band aus Stephen Kings monumentaler „Der dunkle Turm“-Saga, ist überflüssig wie ein Kropf. Die Luft ist raus, die Geschichte von Revolvermann Rolands Schicksalsgemeinschaft, seines Ka-Tets, ist auserzählt und alles, was jetzt noch kommen könnte, ist nur noch ein Neuarrangement bereits bekannter Motive und Handlungsstränge. Es scheint, als wäre King nach über 4000 Seiten nun endlich die Begeisterung für seine Figuren und die Welt des Dunklen Turms ausgegangen.

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In „Wind“ zwingen die Umstände – ein Verderbnis bringender Sturm das Ka-Tet zur Untätigkeit – und seine Begleiter Roland dazu, sie mit Geschichten am Lagerfeuer zu unterhalten. Und wie wir wissen, ist der Revolvermann ein schweigsamer Zeitgenosse, einer, dem kein Wort zu viel über die Lippen kommt, besonders, wenn es um seine eigene Vergangenheit geht. Dabei gebe es so viel zu erzählen. Jetzt hielt King scheinbar die Zeit für gekommen, ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern. „Historisch“ angeordnet zwischen den Bänden „Glas“ und „Wolfsmond“, dem vierten und fünften also, füttert „Wind“ die treue Fangemeinde nun gut vierhundert Seiten mit ein paar Extrafakten über den Schlachtenlenker Roland und seine Jugend. Bevor die große Märchenstunde aber beginnen kann, kämpfen sich Roland, Jake, Eddie, Susannah und der Billy-Bumbler Oy noch durch einen kleinen Rest Mittwelt, um sich schließlich final in die Schutz bietende Behausung zu retten. Wie spannend das sein kann, ergibt sich im gesicherten Wissen um den unversehrten Fortbestand der Gemeinschaft und die bereits in aller Tiefe angelegten Figuren eigentlich von selbst. Kurz: Gähn, bitte einfach die Spitze noch etwas aufhübschen oder konsequent darauf verzichten, den Baum in der Breite anzufüttern. Stephen King, das war nichts.“ Hart genug war es, immer jahrelang auf die Folgebände des Zyklus zu warten, selbst wenn man sicher wusste, dass da was kommen musste. Und nun? War es das endgültig? King ist ein Meister des strukturellen grusels, er hält seine Leser im permanenten Würgegriff. In seinen Geschichten und nun auch noch außerhalb. „Wind“ ist natürlich nicht überflüssig, schon gar nicht uninspiriert. Roland erzählt verschachtelt zwei Geschichten – eine aus seiner Jugend und eine fiktive, die darin geschickt (strukturell fesselnd eben) eingewoben ist. Es geht um Roland als junger Revolvermann, kurz nachdem er seine Mutter erschossen hatte. Es geht um mordende Fellmänner, um den alltäglichen Furor, um Schwäche, Heldenmut, guten und bösen Zauber, den Balken, Wunder und Schrecken. Um alles also, was das Universum des Dunklen Turms so einzigartig macht. Welten fallen und werden neu erschaffen, Zeiten fließen ineinander, Technik wird menschlich und das Wundersame alltäglich. Vereinnahmend wie eh und je zieht Stephen King die Freunde seines Ka-Tets ohne Umwege in seine Welt, das Pathos und die grenzenlosen Möglichkeiten in einer dem Untergang geweihten Welt, umschmiegen den Leser wohlig. Denn hinter jeder umgeblätterten Seite kann sich schon die nächste Wendung, das nächste Rettung bringende Werkzeug verstecken und die Fiktion des Geschichtenerzählers innerhalb der Geschichte wird zur gern genommenen Realität. King ist ein Meister und „Wind“ – obgleich für das Werk eigentlich unbedeutend – reiht sich charmant in den Zyklus ein. Wenn Sie etwas anderes lesen, wissen Sie, wo es her kommt. Wie geht es jetzt weiter, Stephen King?

P.S.: Ich habe lange überlegt, was den „Dunkler Turm“-Zyklus so meisterhaft, so einzigartig macht. Nach „Wind“ weiß ich es, selbst, wenn der Band erzählerisch für den Fortgang der Geschichte unbedeutend ist: Es ist dieses nonchalante Einführen von wundersamen Geräten, Ideen und Figuren, die stets irgendwo auftauchen und irgendwie genau zur Problemstellung passen, ohne, dass man an Richtigkeit oder Redlichkeit dieser Technik zweifeln kann. Wie gesagt, King ist der Meister!

Till Erdenberger

Theo Boone ist wieder da.

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John Grisham ist für die leichten Jobs nicht zu haben: In einer Gesamtauflage von inzwischen rund 250 Millionen Exemplaren fesselt er weltweit mit penibel recherchierten Justiz- und Kriminalplots sein Publikum, schreibt Sach- und Drehbücher und ist nebenbei noch Baseballfunktionär. Kein Mann, der die dünnen Bretter bohrt. Sein aktuelles Projekt ist aber immer noch ungleich ambitionierter, als alles, was der Autor in der Vergangenheit angefasst hat: Er führt eine Generation von Kurznachrichtenlesern in die Welt des mehrhundertseitigen Justizthrillers ein.

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“Unter Verdacht” ist der dritte Teil der Reihe um Theo Boone, 13-jähriger Junganwalt aus dem Kleinstädtchen Strattenburg, die nicht nur junge Erwachsene, sondern vor allem die Leser im Alter des juvenilen Helden begeistern soll. Dabei macht es der Autor seinem neuen Publikum nicht zu leicht. Theo Boone ist kein einzelkämpfender Enid Blyton-Charakter, kein juristisch vorgebildeter Harry Potter und auch ansonsten kein Typ, den man sich als besten Kumpel zum gemeinsamen Durchdickunddünngehen wünschen würde. Nein, Theo ist immer etwas zu klug, er weiß immer etwas zu viel und neigt dazu, mit seinem Ehrgeiz zu überfordern. Dazu stammt er zu allem Überfluss noch aus gutem Hause (alter Justizadel) und ist damit seinen Altersgenossen per se nicht ganz geheuer. Dennoch ist er Sympathieträger, denn der scharfsinnige Ermittler ist auch hilfsbereiter Mitschüler und guter Freund. Ein Freund eben, dem man mit ein wenig Abstand gerne dabei zuschaut, was er macht und wie er es macht. In “Unter Verdacht” ganze 320 Seiten lang. Denn so lange braucht der Junganwalt in eigener Sache, sich selbst von Vorwürfen reinzuwaschen: Nach dem Einbruch in einem Computerladen wird die Beute in Theos Spind gefunden. Eine Verschwörung, ganz offensichtlich. Man möchte ihm schaden. Nur wer? Und wieso? Die Suche nach Antworten führt Theo Boone auf die Spur eines skrupellosen Widersachers, der sich für kein Mittel zu schade ist, seinem Gegner zu schaden. Aber warum? Die Motive dafür liegen in einer gemeinsamen Vergangenheit ohne gemeinsame Zukunft, wie Theo bald heraus findet. Mit mehr Aktion, mehr unmittelbarer Auseinandersetzung mit einem bedrohlich über dem 13-Jährigen liegenden Schatten aus Gefahr und Verrat ist “Unter Verdacht” der bisher fesselndste Teil der Reihe.  Grishams Sprache, dieser bestechend klare und nüchterne Stil, die emotionale Sachlichkeit, setzt sich in dieser neuen, jüngeren Welt ohne anzugtragende Paragraphenreiter fort. “Theo Boone” ist eine Jugendbuchreihe auch für Erwachsene, die in der Tradition der großen Vorbilder steht: Es geht um knifflige Fälle, um überraschende Wendungen, auch um Freundschaft und die großen Werte. Nur eben nicht in einer Welt voller Ferien, Übernachten im Freien und rettende Zauberkunst. Zumindest keiner überirdischen. “Theo Boone” ist ein meisterhafter Versuch, die Abenteuer der Jugend mit der Sprache der Erwachsenen zu beschreiben, ohne dabei irgendjemanden zwischen den Zeilen zu verlieren.

Till Erdenberger

 

John Grisham – Theo Boone unter Verdacht
Heyne, 320 Seiten

Nachspielzeit ist angepfiffen

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Theo Zwanziger, Philip Lahm, Ulli Borowka, Ansgar Brinkmann, Robert Enke und und und. Die Zahl der Großen des Fußballs, die in den vergangenen Jahren teils vielbeachtete (Auto-)Biographien vorgelegt haben, wächst scheinbar mit jedem Monat. “Nachspielzeit”, eine ganz besondere Fußballerbiographie, stammt nun aber von einem, der nur kurz an den großen Fleischtöpfen des Millionengeschäfts schnuppern durfte, der nur wenige Minuten in dem Rampenlicht stehen durfte, in dem die schon genannten scheinbar ihr halbes Leben verbrachten. Timo Heinze wechselte mit zwölf Jahren in die Jugend des großen FC Bayern, durchlief verschiedene Jugendnationalmannschaften und war später Kapitän der zweiten Mannschaft des Rekordmeisters.

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Der Weg in den Profibereich, in den Fokus von Millionen und in die Reichweite der Millionen, schien vorgezeichnet. Aber dann: Verletzungen, fehlendes Selbstvertrauen und daraus resultierend eine bleierne Schwere, die direkt in eine Abwärtsspirale führte. Mit nur 24 Jahren beendete Timo Heinze seine Karriere, während einstige Mannschaftskameraden wie Thomas Müller einfach durchstarteten und da landeten, wo Heinze eigentlich sich sah. Wie schwer, wie bitter diese Situation ist, das lässt der einstige Hoffnungsträger natürlich durch scheinen und präsentiert damit einen ganz neuen Erkenntnisgewinn für alle Freunde von Sportlerbiographien. Denn während die Superstars, die es geschafft haben, das Scheitern immer nur als Möglichkeit andeuten und die Zurückgelassenen bedauern, gibt es hier Erkenntnisse aus erster Hand. Heinze berichtet über den Neid seiner einstigen Weggefährten in der Jugend, von Entbehrungen, die es gilt zu ertragen auf dem Weg nach oben und er erzählt davon, wie dieser Weg eben an der entscheidenden Stelle die falsche Abzweigung nimmt. Und es schnürt einem selbst die Beine zusammen, wenn der Fußballer beschreibt, wie der Abwärtssog aus Verletzung, übergroßer Motivation und fehlendem Selbstvertrauen einsetzt und das Ende immer näher rückt. Dabei geht es hier “nur” um das Ende einer noch nicht gestarteten Karriere und es ist sehr wohltuend, dass Heinze darauf verzichtet, allzu grundsätzliche moralische Exkurse zu unternehmen. Es geht nicht um leben und Tod, nur um Fußball. Aber es ist natürlich auch mehr, denn während manch ehemaliger Kollege nach zwei Jahren Bundesliga für den Rest seiner Tage keine Sorgen mehr hat, geht der ehemalige Juniorennationalspieler nun wieder studieren. Und Heinze ist sich nicht zu fein, genau diesen Gedanken auch zu thematisieren. Er beschreibt sein Leben und Scheitern als Fußballer, gewährt intime Einblicke in Kabine und Innenleben und schneidet sie mit Bildern und Erzählungen aus seinem “wahren” Leben gegen. Die Geschichte von einem, der es nicht geschafft hat ist so um ein Vielfaches gewinnbringender als die nächste Lahm-Geschichte mit kalkuliertem Eklat und stromlinienförmigem Möchtegernrundumschlag. Fußball ist ein Spiel von wenigen Millionären und vielen Timo Heinzes.

Till Erdenberger

Timo Heinze: “Nachspielzeit”
Rowohlt, 236 Seiten

Bis zu den Knöcheln im Eiswasser

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ANKERHERZ, der Verlag mit den starken Werten, den wahren Helden und den außergewöhnlichen Geschichten hat es wieder getan: Ein ganz außergewöhnliches Buch vorgestellt, das den Leser direkt in sich hinein zieht, wie ein Wellental den eben noch auf dem Kamm tanzenden Trawler. “Northwestern” erzählt die Geschichte von Sig Hansen und seiner Familie, einer norwegischen Fischerdynastie an der Westküste der USA. Es handelt vom harten Leben auf der offenen See, von Freundschaft, Brüderlichkeit, Loyalität, Freude und Verlust.

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Regisseure machen aus diesen Zutaten gleich drei schmierige Kitschblockbuster. Mark Sundeen, der Reporter des New York Times Magazine, der die Geschichte der Hansens aufgeschrieben hat, verdichtet alles auf ca. 230 Seiten und schafft damit viel mehr, als es Hollywood je zu leisten im Stande wäre: Man malt seine eigenen Bilder zu den eindringlichen Schilderungen in Seefahrerprosa, der Puls schlägt im Takt der Dieselmotoren und es fühlt sich an, als stünde man beim Lesen knöcheltief im eiskalten Wasser der Beringsee, nur aus Loyalität den Protagonisten gegenüber. Was hängen bleibt, nach der Lektüre dieser liebevoll erzählten Ode an die See, den Zusammenhalt und den allgegenwärtigen Gefahren der Fischerei in lebensfeindlicher Umwelt: Wofür Österreicher 40 Kilometer in die Luft gehen müssen, erlebt man auf offener See jeden Tag aufs neue umsonst. Kaum zu kalkulierende Naturgewalten, die tödliche Gefahr, die auch kleinste Fehler im Zusammenspiel aus Mensch und Ausrüstung heraufbeschwören und am Ende des Tages die Faszination, den Gewalten getrotzt und dem wilden Leben einen weiteren tag abgetrotzt zu haben. “Northwestern” ist so spannend, wie die Krabbenjagd in den nördlichsten Gefilden, so herzerwärmend, wie es nur die Geschichten von Freundschaft unter Männern sein können und so fesselnd, wie die Leine eines losgerissenen
Fangkorbes bei Windstärke 13, der sich in Windeseile um deine Knöchel geschlungen hat, um dich herab zu ziehen in die tosende See. Genau in diesen Momenten ist man nämlich froh, Männer wie Sig Hansen bei sich zu haben. Und sei es auch nur 230 Seiten lang. Zum Glück ist “Northwestern” wie alle Bücher des Verlages etwas zum daran festhalten. Schwer in der Aufmachung, griffig und liebevoll. Ankerherz macht Bücher, denen man sich gerne anvertraut. Zumindest tagelang. Um sich ihnen wochenlang auszuliefern, dafür sind sie leider viel zu kurz.

Till Erdenberger

Wenn Aschenputtel auf Peitsche trifft

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Auch unsere Autorin Mirka Uhrmacher hat sich durch den Buch-Hit der Saison gequält. Und vielleicht ist das der Beginn einer wunderbareren Karriere als Fetisch-Fotografin. Ansonsten hat “Shades Of Grey” nicht viel zu bieten. Hatten wir irgendwie erwartet. Und feministisch ist das Ganze auch nicht unbedingt. Fifty Shades of Grey oder auch Shades of Grey – Geheimes Verlangen, wie es in der deutschen Übersetzung in guter Groschenromanmanier heißt, führt neben dem offiziellen Titel noch den Beinamen Das Buch. Ob aus literarischer Sicht zu Recht oder nicht sei einmal dahingestellt, diese Kategorie ist hier sowieso eher nebensächlich.

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Was tatsächlich zur Beschäftigung mit E.L. James Megabestseller herausfordert, ist der erstaunliche und bisweilen auch erschreckend anmutende Erfolg eines Skandalromans, der völlig ohne nennenswert skandalöse Inhalte und ebenfalls ohne interessante Story auskommt. Dass man die 600 Seiten trotzdem durchhält, ist ein Phänomen. Und so ist eigentlich auch vor allem die Frage spannend, wie ein dermaßen schlecht und eintönig geschriebener Schund einen solchen Hype auslösen kann. Die Autorin – ein großer Fan der Twilight-„Saga“ – schreibt so originell und variantenreich wie ein automatisches Textgenerierungsprogramm. Alle drei Zeilen errötet das graue Mäuschen von Protagonistin, während sie die Fassung verliert, es nicht glauben kann, vor Erregung und Verlangen weder ein noch aus weiß, mit ihrem Unterbewusstsein (äh…) und ihrer inneren Göttin (was zum…?!) zu kommunizieren versucht und nervtötende ‚Oh’s oder ‚Wow’s in die leere Luft ihres Kopfes blubbert. Anastasia Steel ist so unfassbar naiv, dass man sich fragen muss, wie sie es bis ins hohe Alter von 21 Jahren – wohlgemerkt ohne jemals dabei über oder gar auf einen Mann gestolpert zu sein – geschafft hat. Christian Grey dagegen, atemberaubend schön und reich und attraktiv und smart und gutaussehend und geheimnisvoll und, ja, schön halt – schon gehen einem die Synonyme aus! – , weiß alles, kann alles, ist die Souveränität in Person und wird nur, ach wie romantisch, bei der tollpatschigen kleinen Literaturstudentin schwach, die zufällig in sein Büro purzelt. Aschenputtel lässt grüßen. Er bringt daraufhin erwartungskonform ihre Welt total durcheinander und sie die seine. Doch ein dunkles Geheimnis, welches den Astralkörper des Christian Grey aurengleich umflattert, macht die ganze Sache natürlich reichlich kompliziert. Der ‚schwarze Prinz‘, als welcher er stilisiert wird, hatte eine schwere Kindheit (schnief) und ist seitdem ziemlich verkorkst. Aber von Ana kann er die Finger nicht lassen und sie praktischerweise ihre auch nicht von ihm und so konfrontiert er sie mit seinen ungewöhnlichen Leidenschaften: einem vor Klischees triefenden Spielzimmer, in dem es alle landläufig assoziierten BDSM-Utensilien gibt. Dass dieser Raum eher an wenig kreative, dafür aber mit einem ordentlichen Mengenrabatt für roten Samt ausgestattete Bordelle erinnert, ist innerhalb der sterilen und hypermodernen Penthousewohnung des Multimillionärs Christian Grey sicherlich nicht gewollt, aber unvermeidbar und extrem störend. Jungfrau Ana ist jedenfalls erst einmal angemessen schockiert, lässt sich daraufhin aber prompt von diesem ‚perversen Schwein‘ entjungfern, verliert vor lauter Orgasmen dabei fast das Bewusstsein und entschließt sich, aufgrund ihrer pubertär überzogenen Gefühle, die eher an die Verehrung einer Boyband oder eines Filmstars erinnern, seine kleinen Spielchen mitzumachen. Sie kriegt den Po versohlt und Reitgerten eingeführt, windet sich stets brav unter den ekstatischen Zuckungen ihrer unzähligen Orgasmen, bekommt MacBooks, Smartphones, Autos und Klamotten geschenkt und weint manchmal, weil das dann doch alles irgendwie ein bisschen viel für sie ist. Christian bleibt ihr – das ist ja auch seine Aufgabe – ein riesiges Geheimnis, klar ist nur, dass sie ihn retten will und muss. Vor sich selbst und seiner bösen dunklen Seite. Denn sie will ‚Mehr‘, und um dieses kleine magische Wörtchen entspinnt sich eine belanglose Geschichte, in der abgesehen von den äußerst sparsam zum Einsatz gebrachten Spielzeugen kaum ‚härter gefickt‘ wird, als bei den meisten Paaren zu Beginn ihrer Beziehung, in der nur ganz selten mal jemand haut und in der Ana maximal gefesselt und zu vierzigstimmigen Kirchenchören sanft mit einer Peitsche in bis dato völlig unbekannten Sphären der Lust vor sich hin dümpelt. An dem Punkt, wo Mr. Grey endlich mal richtig zulangt, schreit sie ihn an, wünscht ihn zum Teufel, verlässt ihn und sein Megahyperluxuspenthouse – und das Buch ist zu Ende. Meine Güte.

Irritierender als der haarsträubende Schreibstil und die nichtssagende Story ist letzten Endes nur der Kontext, in dem dieses Werk seinen Anfang nahm. Geboren als einfallslose Fanfiction und ursprünglich den beiden Twilight-Dummdöseln auf den Leib geschrieben, ist die Tatsache, dass da eine verheiratete Frau Mitte 40 einen Jugendroman vergöttert und passioniert weiterschreibt der wirklich verstörende Fakt. Es wäre sicherlich spannend zu erfahren, was sie zu dem jüngsten Skandal um Vampirella Kristen Stewart zu sagen hat, die den armen Robert Grey… äh, Pattinson betrogen hat. Bei Youtube gibt es hierzu Videos von Fans, die weinen und schreien und zetern und… das ist wirklich alles hochgradig gruselig. Was bringt erwachsene Frauen, von denen man annehmen sollte, dass sie mitten im Leben stehen, bloß zu einem dermaßen fragwürdigen Verhalten? Was treibt sowohl Autorin wie Leserinnenschaft an? Sexuelle Revolution? Ein (antifeministischer) Backclash? Oder doch ein noch viel weitreichenderer Wunsch, nämlich der nach himmlischer Infantilität?

Der Umstand aber, dass dieses Meisterwerk an Stumpfsinn so erfolgreich ist, wirft offensichtlich Fragen auf. Was um alles in der Welt ist da los? Seichte Lektüre mit kleinen erotischen Einsprengseln sei jedem zugestanden und ist wirklich etwas Schönes. Wenn aber öfter ‚postkoitales Haar‘ gekämmt und irgendwas gegessen wird, als dass es mal richtig zur Sache geht (denn hey, das erwarte ich nun mal von so einem Roman!), der geschilderte Sex reichlich kurz ausfällt, da Ana schon kommt, ehe sich der durch das Lesen ausgelöste sexuelle Reiz bis zum Gehirn des Lesers – oder eher: der Leserin – vorgekämpft hat, dann macht das reichlich wenig Sinn. Was also feiern Millionen von Frauen an diesen 600 Seiten Eintönigkeit? Tatsächlich eine sexuelle Revolution, durch die endlich eine tabufreie Thematisierung des SM-Bereichs ermöglicht wird? Na, wohl mitnichten! Ganz im Gegenteil wird diese sexuelle Vorliebe hier nicht salonfähig gemacht, sondern als Entartung, Perversion und Krankheit gebrandmarkt. Immerhin steht ja genau das zwischen Ana und Christian, steht ihrer tiefen Liebe (hach ja) im Weg, macht alles kompliziert, gehört therapiert. Ausgelöst durch seine traumatische Kindheit (hach ja) ist Mr. Grey nicht dazu in der Lage, eine andere Art von Nähe zuzulassen. Auch wenn er heftig dementiert, als Kind missbraucht worden zu sein, Ana erzählt diese Geschichte aus der Ich-Perspektive (hach ja), es gibt keinen Erzähler, der für eine objektive Ansicht zurate gezogen werden könnte. Und in Anas Augen ist der gute Mr. Grey ein gutaussehendes, reiches, missbrauchtes und perverses Schwein, das es zu retten gilt. Wenn so ‚salonfähig‘ aussieht… Irgendwie kann es das also nicht sein.

Also doch der Wunsch nach alten Rollenverhältnissen? Aber Feministinnen sollten nicht aufschreien, weil sich hier eine Frau freiwillig einem Mann unterordnen würde. Das will Ana ja gar nicht! Das störrische kleine pubertäre Gör versteht den Sinn dieser ganzen Sache nämlich überhaupt nicht. Zudem wäre die Unterwerfung eines dermaßen leicht zu manipulierenden Mädchens auch nicht überaus attraktiv. Was mich selbst – unabhängig nun von allem Gender-Gerede – echt auf die Palme gebracht hat ist, dass Ana fröhlich auch auf den Gebrauch ihrer letzten noch verbleibenden dreieinhalb Gehirnzellen verzichtet und dieser Umstand bei Frauen rund um den Globus scheinbar feuchte Höschen hervorruft. Ja Sakrament, ist das die Vorstellung einer erfüllten Sexualität im 21. Jahrhundert? Eine Jungfrau trifft auf einen Experten und wird von da an von Orgasmen nur so überschüttet, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung von ihrem eigenen Körper zu haben? Es ist eine alte und überaus faule Ausrede, schlechten Sex immer nur auf die Unfähigkeit des Mannes zu schieben. Eine Frau, die schlechten Sex hat, ist in den allermeisten Fällen selbst daran schuld. Und folglich ist auch guter Sex nicht das Ergebnis von Hexerei oder glücklichen Zufällen, sondern logische Konsequenz aus einem offenen Verhältnis zum Partner, zu sich selbst und den Bedürfnissen des eigenen Körpers. Aber nein, Ana lebt einen anderen Traum vor: man muss nichts wissen, nichts können, keinerlei Erfahrungen haben oder machen und am allerwenigsten muss man selbst wissen, was man will. Man muss nur den 6er im Lotto finden, den Kerl, der alles wie durch Zauberhand weiß und kann und durch seine übersinnlichen Fähigkeiten schon Brustwarzenzupfen in Orgasmuswellen konvertiert. Jubilieren da die frustrierten Hausfrauen, die sich der Sache nicht selbst annehmen wollen? Weil ihnen hier die Verantwortung für ihre eigene Sexualität abgenommen wird, da es eben eines Christian Greys bedürfe, damit auch in ihrem Unterstübchen mal Ozeane branden? Das scheint bitter, aber nicht abwegig.

Die Darstellung einer unmündigen Sexualität ist aber nur der Gipfel des Simplifizierungs-Eisbergs. Denn in Shades of Grey wird alles so stark vereinfacht und in solch abgedroschene Kategorisierungen gestopft, dass die Erwähnung der Farbe ‚Grau‘ im Titel schon an ein Meisterwerk unbeabsichtigter Komik grenzt. Statt Facetten gibt es nur das Schwarz und Weiß einer Welt, die so eindimensional ist, dass keinerlei Mitdenken mehr erforderlich ist, weder auf Seiten der Protagonisten noch auf Seiten der Rezipienten. Wieder Teenie sein, aber Erwachsenenspielchen spielen, das scheint Trumpf.

In den Worten von Christian Grey ist angelegt, was eigentlich tatsächlich für immer mehr Frauen reizvoll wird: „All die Entscheidungen, die ermüdenden Überlegungen und Grübeleien, die damit verbunden sind. Diese Frage, ob es auch wirklich das Richtige ist. Ob es wirklich jetzt passieren soll. Und hier. Über all das müsstest du dir keine Gedanken mehr machen“. Das Pendant zum Manager, der sich ab und an mal durchpeitschen lässt, Verantwortung ablegt, mal nicht die Anweisungen gibt, sondern einfach mit sich machen lässt. Eine moderne, emanzipierte und erfolgreiche Frau zu sein, das ist anstrengend und manchmal möchte man einfach nur einen richtigen Kerl an der Seite haben, der das Denken unterbindet und sagt, was Sache ist. ‚Ficken‘ eben. Doch so eine Frau ist Anastasia Steel nicht. Es sind keine kurzzeitigen Fluchten aus der anstrengenden Realität, die sie mit Christian Grey unternimmt, denn ihre Realität ist nicht im Geringsten anstrengend. Und Christian Grey wiederum ist nicht der psychisch gefestigte Charakter, dessen Überlegenheit man sich gern einmal temporär unterwerfen möchte. Es geht nicht um die positiven Aspekte von Dominanzverhältnissen und auch nicht um die lustvolle Dimension des Schmerzes. Anastasia bringt es auf den Punkt: „Vor mir steht ein Mann, der dringend Hilfe braucht. Was aus ihm spricht, ist die nackte Angst, doch er ist verloren… irgendwo in der Dunkelheit, die in seinem Innersten herrscht. Er sieht mich aus weit aufgerissenen Augen an, in denen die blanke Qual steht. Aber kann ich ihm helfen, kann ich zu ihm hinabsteigen, in seine Dunkelheit, und ihn ins Licht holen?“ Das irgendwo aufgeschnappte Konzept wird verworfen zugunsten eines unreifen Helfersyndroms unter Aufgabe nicht etwa der anstrengenden Alltagsverantwortung, sondern der Verantwortung generell, nicht zuletzt auch der wundervollen Verantwortung der eigenen Sexualität gegenüber, die sehr wohl emanzipiert ist, auch wenn ein Teil von ihr sich nach Unterwerfung sehnt. Salonfähig machen, hm? In Shades of Grey geht es nicht darum, ein unzeitgemäßes Tabu zu brechen, um endlich über etwas sprechen zu können, das nicht krankhaft und nicht falsch ist. Es geht darum, das „Ausmaß [der] Verderbtheit“ zu schildern und sich insgeheim erregt an Selbiger zu reiben, eben weil das Tabu unangetastet bestehen bleibt. Hierzu wird das Ideal einer sexuell völlig unerfahrenen jungen Frau stilisiert, die nicht nur sich, sondern auch ihre Sexualität dem Manne unterwirft und deren Unmündigkeit (immerhin kriegt sie ‚im Mündlichen‘ die Note 1 von ihm) nicht im Geringsten problematisch erscheint. Das, meine Damen und Herren, ist traurig. Die sexuelle Unterwerfung ist eine hohe Kunst, zu deren Ausübung es zweier äußerst willensstarker Partner bedarf, denn der Sinn liegt nicht darin, einer schwachen Frau den eigenen Willen aufzuzwingen, sondern eine starke Frau dazu zu bringen, schwach sein zu wollen. Das Problem liegt also nicht im Thema – darf sich eine Frau in Zeiten der Emanzipation gern unterwerfen? – , sondern in der falschen Darstellung. Dass die Leserinnen hierin kein Problem sehen, ist nicht darauf zurückzuführen, dass sie in feministischer Sicht bereits jenseits von Gut und Böse sind, sondern deutet darauf hin, dass hier nicht maßgeblich der Wunsch nach sadomasochistischen Praktiken im Vordergrund steht. Das ist nur die kleine Prise Würze und Tabu, die das Gefühl vermittelt, etwas Unanständiges zu tun. Hätten wir es mit mental erwachsenen und sexuell selbstbestimmten Frauen zu tun, könnte dieses Gefühl jedoch gar nicht erst aufkommen. Weder Tabubruch noch Backclash können also als Erklärungsmodelle für den Erfolg dieses Romans herhalten. Was Millionen von Frauen dazu treibt, nur durch sexuelle Implikationen von Teenieromanen zu unterscheidende Bücher und Filme zu verschlingen, ist ein tiefsitzender Wunsch nach Vereinfachung, danach, nicht schuld zu sein und keine Verantwortung übernehmen zu müssen, im Endeffekt nach unschuldiger Kindlichkeit. Nur die Sache mit dem Sex wird als scheinbar einzige lohnenswerte Errungenschaft des Erwachsenendaseins noch mit hinübergerettet, aber bitte erst nach einer umfassenden Säuberung von allen realistischen und damit unangenehmen Zügen. Nicht der Feminismus ist diesen Frauen zu kompliziert, sondern die gesamte Welt ist es. Sie sehnen sich zurück in die Zeit einfacher Kategorisierungen und abgedroschener Romantikvorstellungen, fernab der ernüchternden Enttäuschungen, die das Leben jenseits der Pubertät bestimmen. Erotik ist hier nur eine Spielart, das tatsächliche Anliegen heißt Flucht. Wie schon erwähnt, ist eine temporäre Flucht etwas Herrliches, und Literatur ist letztendlich nichts anderes. Schwierig wird das Ganze erst, wenn nicht in die Passion geflüchtet, sondern die Flucht zur Passion wird.

Positiv hervorzuheben bleibt, dass sich Fifty Shades of Grey in rasantem Tempo lesen lässt. Die große Zahl der Fließband-Leserinnen kann hier die gewohnt raschen Fortschritte verbuchen. Ansonsten haben wir es mit einem alles andere als vielseitigen Roman zu tun. Es gibt keine facettenreiche Story und am wenigsten gibt es fünfzig verschiedene Facetten des Christian Grey. Er ist schlicht das Abziehbild eines – übrigens klassisch von Frauen imaginierten! – Stereotyps, ergänzt um exakt nur eine einzige Facette: seinen Hang zur Dominanz. Anastasia Steel fehlt es schließlich sogar an dieser Einen. Um abschließend die wundervolle Verballhornung zu zitieren, die das TITANIC-Magazin in einem völlig anderen Kontext verwendet hat: Extrem lau und unglaublich blah. Aber doch besorgniserregend.

Mirka Uhrmacher

„Wenn die Nacht am stillsten ist”
von Arezu Weitholz

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erscheint im Verlag Antje Kunstmann am 5. September

Es ist nicht so, als ob auf die klischeehafte Oberflächlichkeit der Irgendwasmitmedienbranche nicht schon exzessiv drauf gehauen wurde, aufschlagen, zuschlagen, immer wieder. Bücherweise. John Niven meisterlich und mit unfassbar anarchischem Mitekelhumor in „Kill Your Friends“, Frédéric Beigbeder ebenso meisterlich und abgrundtief fesselnd in „39,90“ und viele andere in Schattierungen oder Ableitungen. Aber keiner hat es bisher geschafft, so eloquent, so menschlich und so greifbar über die zwischen Konsumterror und der Suche nach einem höheren Sinn gefangenen selbst ernannten Opinion Leader zu schreiben, wie die Berlinerin Arezu Weitholz in „Wenn die Nacht am stillsten ist“, ihrem jüngst im Verlag Antje Kunstmann erschienen Romandebüt.

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In einem Kammerspiel lässt sie Anna, unpoetisch aber romantisch, optimistisch aber beladen mit einer schweren Vergangenheit und anstrengender Gegenwart, am Bett ihres stillen und beinahe regungslosen Partners Ludwig eine Lebensbeichte ablegen. Ludwig, Medienmensch, Hedonist, poetisch aber gefühlskalt, liegt in einer Art Wachkoma und gibt keine Widerworte, während Anna ihm, sich und uns von einer bezaubernd unverdorbenen Warte aus ihr eigenes und das gemeinsame Leben erzählt. Dass beide Geheimnisse voreinander hatten, die nun zur Sprache kommen oder alte und neue Wunden aufreißen, die Entwicklung ihrer Beziehung und die Frage, ob Ludwig absichtlich eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat, um aus dem Leben zu scheiden, das für ihn beruflich eine Wendung zu nehmen schien, ist das dramatische Moment, der dramaturgische Faden, der den Roman am Laufen hält. Leben eingehaucht bekommt er aber vor allem durch die Wort-, nein, die Satzmacht der Autorin, die dieses Werk selbst dann außergewöhnlich machte, wäre es eine bloße Aneinanderreihung von Sätzen. Weitholz versammelt in „Wenn die Nacht am stillsten ist“ Sätze von so absoluter und gleichzeitig nonchalanter Schönheit und Wahrheit, dass man sie gerne absätzeweise mit jemand ganz besonderem teilen möchte. Dass sie dabei meistens unerfreuliches oder wenigstens unappetitliches transportiert, spielt für Momente keine Rollen. Form und Funktion gehen bei der Autorin meisterhaft Hand in Hand und wenn sie ihre Protagonistin bittere Wahrheiten in Sätzen aussprechen lässt, die auch der Refrain deines neuen Lieblingslieds sein könnten, dann ist das reine Berechnung. Und natürlich soll die romantische Anna mit all ihren Problemen, ihrer Vorgeschichte, ihrem Lieben und ihrem Verlassenwerden der Gegenentwurf zum verlassenden, zum kalten und nur sich selbst und die Symbole des Konsums und der Hochkultur liebenden Ludwig sein, ein guter Mensch, vielleicht sogar so etwas wie eine sympathische Verliererin. Charakterfest selbst in der Krise, barmherzig vor allem gegenüber anderen. Wenn es in dieser Geschichte einen Sympathieträger geben würde, denjenigen, auf den man alle seine Empathie verwenden würde, dann wäre es nicht Ludwig.

Versuchte Arezu Weitholz also ein Plädoyer für die Überlegenheit der emotionalen Tiefe gegenüber der hedonistischen Oberflächlichkeit zu halten? Wohl kaum. Ihr Buch lässt am Ende keine Gewinner übrig, aber vielleicht wenigstens ein bisschen Hoffnung. Hoffnung, dass der Schein dem Sein höchstens ein Spiegel ist, die Fläche für Reflektion und die Möglichkeit zur letztendlichen Erkenntnis, dass alles Leben nur einem Punkt zustrebt. Und an diesem Punkt ist es Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen.

Till Erdenberger

Foll Lustik

lol

Die deutsche Sprache brachte der Welt wunderbare Kunst: Die Lyrik Goethes, die Prosa von Grass oder die Wortmacht von Polt.

Die Autoren Manuel Grebing und Stephan Scheler brachten der Welt immerhin schon zwei Ausgaben von „Cumshots“, zwei wunderbaren Dokumentationen der Absurditäten der Sexfilmchenindustrie. Im Sommer 2012 haben beide ihre Kompetenzen vereinigt. Das Ergebnis heißt „Lolst du noch oder roflst du schon“ und ist eine überaus komische, gleichermaßen schonungslose, womöglich erschreckende und hoffentlich nicht repräsentative Bestandsaufnahme des Deutschen im 21. Jahrhundert.

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Und auch, wenn die dokumentarische Wissenschaft Kategorien wie „erschreckend“ nicht kennt, dürfte den Autoren bei ihrer Arbeit das Lachen manches mal gefroren sein. Der Gegenstand ihrer Beobachtungen war nämlich noch weit absurder, bizarrer und schlüpfriger als die Recherche im Pornomilieu: Ihr neues Buch präsentiert die Welt der Youtube-Kommentare. Ein Binnenkosmos von Kurzprosa, zusammengekürzter, meinungsstarker Diskursraum und obskurer Plattheiten zwischen Fäkalausfällen und Nazivergleichen unter dem Deckmantel der Anonymität. Oder wie der geneigte Youtube-User es wohl sagen würde: ROFLMAO, ihr Noobs!

„Lolst du noch oder roflst du schon“ könnte man ohne weiteres als ein kleines, unterhaltsames Büchlein durchwinken. Denn das Milieu, in das die Autoren hinab gestiegen sind, wimmelt von absurd komischen, weil überheblichen und mitteilsamen Dummköpfen, die andere User zurechtweisen. Rechtschreibung und Grammatik haben hier unten keine Befugnisse mehr. Das sieht dann so aus: „Was ist das für ein phychiopat“, „scheiss gymnasier“, „jaja das opfa hat gestan kasiet“, „was für eine HOLE nuss“ oder „die hat wohl nur 1 iq“. Je stärker der Grad der Empörung, je größer die Überzeugung der User, auf der richtigen Seite zu stehen, desto größer ist der Lesespaß. In kleinen Dosen wohlgemerkt, denn die Schmerzgrenze ist spätestens dann erreicht, wenn man sich vom amüsierten Dauerkopfschütteln eine Nackenzerrung geholt hat.

„Lolst du noch oder roflst du schon“ ist eine Dokumentation des Grauens und dabei brüllend komisch. Dabei befriedigt sie eigentlich „nur“ die gleichen Instinkte, wie das Ansehen von Scripted Reality-Sendungen: „Die da unten und wir hier oben“ oder einfach „das kann doch nicht wahr sein“. Denn inhaltlich haben die allerwenigsten Kommentare so etwas wie Witz oder gar Geist zu bieten. Und deshalb soll das Buch auch mehr sein als der kleine komponierte Klamauk. Die Autoren haben den Titel um die Unterzeile „Die Feränderung der deutschen Sprache“ ergänzt und weisen im Vorwort halb ironisch, halb ernst darauf hin, dass ihre Arbeit „Pflichtlektüre für alle Germanistikstudenten und Deutschlehrer“ sei. Und damit haben sie natürlich – vollkommen unironisch – völlig Recht, denn die deutsche Sprache kennt nicht nur zwei Lautverschiebungen und eine jüngere Rechtschreibreform, sondern muss sich auch mit ihrer Pervertierung oder Mutation in Zeiten des Internets, von Smartphones und damit einhergehender Mikrokommunikation plagen.

Goethe wäre mit dieser Youtube-Ausgabe des Deutschen genauso unmöglich gewesen wie der Faschisten-Agitator Goebbels. Denn was reimt sich schon auf „geowned“ oder „Hässlon“ und wie will man einen Epic Fail wie den Zweiten Weltkrieg entfesseln und später rechtfertigen, wenn einem nur Vokabeln wie „Fratzenfasching“, „Daumenbettler“ und „Geilomatiko“ zur Verfügung stehen?

Scheler und Grebing haben deshalb nicht nur jedem der acht thematisch geordneten Kapitel eine kommentierende Einleitung voran gestellt, sondern auch ein Vorwort verfasst, durch das sich wohl nur die wenigsten der vorgestellten Anonymen Youtuber arbeiten dürften. „Lolst du noch oder roflst du schon“ ist aber natürlich Unterhaltung pur. So gemeint, so konzipiert und vor allem auch genau so in der Wirkung. Es ist aber allemal das Verdienst der Autoren, dass sie ihr Werk durchaus auch als Fleißbeitrag in den Diskurs rund um den aktuellen Zustand der Sprache der Dichter und Denker einbringen. Und wo die Frage nach „gutem“ und „schlechtem“ Deutsch ganze Essaybände füllt, sich deutschlandweit zig Lehrstühle mit dem Wandel der Schriftsprache auseinander setzen und kein Sarrazin mehr ohne den Verweis auf die Verrohung der Sitten und die Gefahr für das deutsche Bildungsbürgertum durch den Angriff von außen und unten auskommt, machen Scheler und Grebing auf 176 Seiten weiter das, was sie können: Beobachten, sortieren und den Rest einfach für sich stehen lassen. Das ist unheimlich unterhaltsam. Und gar nicht gefährlich. Und man kann es prima zweimal lesen. Einmal als Voyeur, einmal als Wissenschaftler. Nix mit „plamasche opfa“, „Lolst du noch oder roflst du schon“ kürzt die Frage nach Sinn des Sprachwandels auf Daumendicke ab: Es ist zu komisch, um darüber traurig zu sein. Aber bitte, bitte lasst sie nie raus aus diesem Youtube.

„Lolst du noch oder roflst du schon?“ erschien am 30.7. im Metronom Verlag.

Till Erdenberger

Paul Auster: „Sunset Park“

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Paul Auster hat nach seinem Meisterwerk „Unsichtbar“ einen neuen Roman veröffentlicht. Grund genug, dass sich wie vor „Unsichtbar“ viele Kritiker, Marcel Reich-Ranicki lässt grüßen, wieder auf ihn stürzen. Natürlich war es nicht die höchste englische Aristokratie von Herrn Auster, dass er in Interviews betonte die Geschichte als metaphorischen Ausdruck für den amerikanische Wirtschaftlage verstanden wissen zu wollen und diese noch dazu in nur fünf Monaten aufgeschrieben habe, aber und hier kommt das große ABER: Auster macht das, was ihn seit „Stadt aus Glas“ zum großen Paul Auster macht. Er erzählt tausende Geschichten in einer und am Ende klappt man den Buchdeckel zu (wie immer) im Glauben direkt dabei gewesen zu sein, diesmal in jenem leerstehenden Haus mitten in Brooklyn.

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Einige der besten Zeilen:

- Keine Pläne haben, soll heißen, nichts ersehenen und nichts erhoffen, mit seinem Los zufrieden sein, hinnehmen, was die Welt einem von einem Sonnenuntergang zum nächsten zuteilet.

- Er geht davon aus, dass die Zukunft hoffnungslos verloren ist, und wenn die Gegenwart alles ist, was jetzt zählt, dann muss es eine Gegenwart sein, die vom Geist der Vergangenheit durchdrungen ist.

- Sie will ihr Leben nicht abwürgen, bloß um ihr Leben zu überleben.

- Beide sind jetzt zweiundsechzig, und wenn sie auch bei guter Gesundheit sind, weder fett noch kahlköpfig noch reif für den Abdecker, so haben sie doch graues Haar und auch davon nicht mehr so viel wie früher, und beide sind an dem Punkt angelangt, wo Frauen unter dreißig, vielleicht sogar vierzig, nur noch durch sie hindurchsehen.

- Er nahm an, sie habe es vergessen. Vergessen ist keine Sünde – nur schlichtes menschliches Versagen.

- Beschädigte Seelen. Wandelnde Versehrte, die vor Publikum ihre Adern aufschneiden und bluten.

Auster bleibt sich selbst treu. Seine Kritiker leider auch. (Mal sehen was sie sagen, sollte er für „Unsichtbar“ am Ende noch vor Feuilleton-liebling Philip Roth den Nobelpreis bekommen.) „Sunset Park“ ist ein schöner, höchst atmosphärischer Auster-Roman.

Roman Libbertz

Javier Marias: “Die sterblich Verliebte”

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Unbestreitbar ist der 1951 in Madrid geborene Schriftsteller, wie glühender Anhänger von „Real Madrid“, Javier Marias einer der besten seiner Zunft. In seinem nunmehr dreizehnten Roman „Les enamoamientos“ (wörtlich übersetzt wäre das in etwa mit Quetschungen) beschäftigt er sich mit dem Tod, unterschiedlichen Moralentwürfen und der Verliebtheit. Mit den Augen einer Verlagskauffrau beobachten wir die innige Vertrautheit eines Paars. Als der fünfzigjährige Mann jedoch einige Zeit später auf höchst unglückliche Weise brutal erstochen wird, beginnt eine philosophisch, literarische Kriminalgeschichte.

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Einige der besten Zeilen:

- Wer verlassen wurde, kann von einer Rückkehr träumen, davon, dass dem Verlassenden eines Tages ein Licht aufgeht und er zu unserem Kopfkissen zurückkehrt, selbst wenn wir wissen, dass er uns längst ersetzt, sich in eine andere Frau, eine andere Geschichte vertieft hat und sich nur an uns erinnert, wenn es mit der neuen nicht gut läuft oder wenn wir hartnäckig bleiben, gegen seinen Willen bei ihm auftauchen und versuchen, ihn zu beruhigen, zu erweichen, sein Mitleid zu erwecken oder Rache zu üben, wenn wir ihn spüren lassen, dass er uns niemals ganz loswerden wird, dass wir keine schrumpfende Erinnerung sein wollen, sondern ein unverrückbarer Schatten, der ihn immer umschleichen und belauern wird, und ihm das Leben zur Hölle machen, ihn am Ende dazu bringen, uns zu hassen.

- Beim Betroffenen hält die Wirkung viel länger an als die Geduld derer, die gewillt sind, ihm zuzuhören und beizustehen, schnell versickert sie Bereitschaft in der Eintönigkeit.

- Gern wünschen wir, dass niemand stirbt, nichts zu Ende geht von dem, was uns begleitet und liebe Angewohnheit ist, merken jedoch nicht, dass Angewohnheiten einzig dann unversehrt bleiben, wenn man sie uns mit einem Schlag nimmt, ohne dass sie abdriften oder sich entwickeln können, ohne dass sie uns verlassen oder wir sie.

- Man gewöhnt sich daran, in Erwartung einer Gelegenheit zu leben, die nicht kommt, quasi in aller Seelenruhe, in Sicherheit und teilnahmslos, quasi ohne zu glauben, dass sie je eintreten wird.

- Wie merkwürdig ist unsere Zeit, dachte ich. Über alles darf man reden, alle Welt hört man an, was sie auch getan haben mag, und nicht nur, um ihr Gelegenheit zur Verteidigung zu geben, sondern als wäre der Bericht ihr Gräuel an sich schon von Interesse.

Marias ist ein Meister der klassischen Struktur, der ganz großen Gefühle und vor allem der Leidenschaft. Entgegen anderer Rezensenten bin ich nicht der Meinung, dass dies “der beste Marias, den es je gab” ist, aber zumindest fast.

Roman Libbertz

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